Forum Bioethik Welt am Sonntag 23.06.2002

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Medizinischer Fortschritt mit tödlicher Konsequenz
 

Das Abtreibungsrecht und ein aktuelles Urteil zwingen Ärzte, schon bei dem Verdacht einer Behinderung zur Spät-Abtreibung zu raten 
Von Martina Fietz

 "So groß?" Das Entsetzen der Hebamme wird die junge Frau nie vergessen.
 Vor ihrem geistigen Auge taucht immer wieder dieses Bild auf, wie ihr
 Sohn verzweifelt nach Luft schnappt. Das Baby ist 26 Zentimeter groß und
 lebt. Dabei hatten die Ärzte doch vorausgesagt, es werde tot auf die
 Welt kommen - und behindert. "Täglich denke ich an meinen Sohn und
 daran, dass er seinen ersten Geburtstag als glücklicher, gesunder Junge
 hätte feiern können - wenn seine Mutter sich nicht tatenlos hätte leiten
 lassen von dem gedankenlosen, überhasteten Handeln vermeintlich
 erfahrener Ärzte und dem Urteil irgendwelcher hochtechnologischer
 Apparate."

 Die Selbstvorwürfe lassen die junge Frau nicht zur Ruhe kommen. Warum
 war sie in Hektik verfallen, als ihr der Arzt vor gut zwei Jahren in der
 20. Schwangerschaftswoche mitteilte, ihr Sohn leide an der seltenen
 Stoffwechselkrankheit Mucopolysaccharidose? Warum war sie sofort bereit,
 eine Abtreibung vornehmen zu lassen? Warum hatte sie sich nicht erst
 einmal informiert über das Krankheitsbild und vor allem über die
 Genauigkeit der Diagnose? "Denn", so berichtet die junge Frau, "das
 Schlimmste kommt noch. Fünf Monate nach der Obduktion wurde uns
 mitgeteilt, dass bei unserem Sohn keine Anzeichen einer
 Mucopolysaccharidose festgestellt werden konnten."

 Ein anderer Fall: Sebastian wurde nicht abgetrieben, kam mit zu kurzen
 und verformten Armen und Beinen auf die Welt. Heute ist er sechs Jahre
 alt und seine Eltern erstritten in der vergangenen Woche vor dem
 Bundesgerichtshof (BGH) Schadenersatz und Schmerzensgeld. Zahlen muss das die Frauenärztin, die während der Schwangerschaft nichts von
 Sebastians Fehlbildungen mitgeteilt hatte. Nach Ansicht des BGH hat sie
 damit ihre Pflichten aus dem mit den Eltern geschlossenen
 Behandlungsvertrag verletzt. Sie hätte über die erkennbare Schädigung
 des Kindes informieren müssen. Denn, so gaben die Eltern an, dann hätte
 die Mutter die Schwangerschaft abgebrochen.

 Pränatale Medizin - Segen oder Teufelswerk? Der wissenschaftliche
 Fortschritt bietet die Chance, Leben zu retten. Er hat aber auch
 tödliche Konsequenz. Und er stürzt Eltern, Ärzte, Hebammen in Konflikte.
 Die Medizin wandelt auf schmalem Grat und viele folgen ihr ohne Wissen
 um die weitreichenden Folgen, die pränatale Diagnostik haben kann. Damit
 einher geht ein Gesellschaftsbild vom schönen, makellosen Menschen.
 Behinderung ist da nicht vorgesehen.

 50 Prozent der Befragten sagten in einer Untersuchung der Münsteraner
 Soziologen Nippert und Horst, sie seien bereit, eine Abtreibung
 vornehmen zu lassen, "weil für mich die Vorstellung, ein ganzes Leben
 lang für ein krankes beziehungsweise behindertes Kind sorgen zu müssen,
 schwer erträglich ist". Die Fragesteller testeten auch die Reaktionen
 auf fiktive genetische Defekte und erhielten das erschreckende Resultat,
 wonach 54,9 Prozent der Befragten die Veranlagung zu Übergewicht als
 einen "akzeptablen Grund für eine Abtreibung" sehen.

 Dabei spielen sich immer wieder Szenen ab, die aus Horrorfilmen stammen
 könnten: In Oldenburg überlebt ein Kind seine Abtreibung. Tim leidet an
 Trisomie 21, ist also schwer behindert. Hebammen wickeln das Baby in
 Decken, ansonsten erhält der nach Luft ringende kleine Mensch keine
 medizinische Hilfe. "Neun Stunden wurde die Versorgung des Kindes
 unterlassen, weil man offenbar noch auf dessen Tod hoffte", analysiert
 Claudia Kaminski, Ärztin und Sprecherin der Initiative
 "www.Tim-lebt.de". 

 Sogenannte Spätabtreibungen häufen sich seit der 1995 in Kraft
 getretenen Neuregelung des Paragraphen 218. Damals wollte der
 Gesetzgeber eine Diskriminierung Behinderter vermeiden und strich die
 sogenannte embryopatische Indikation. Seither ist nicht mehr die
 gesundheitliche Schädigung des Kindes entscheidend für eine Abtreibung.
 Ausschlaggebend ist die Frage, ob der Mutter gesundheitlicher oder
 seelischer Schaden droht. Eine Frist gibt es nicht. Bis kurz vor dem
 Geburtstermin kann die Schwangerschaft abgebrochen werden.

 177 Spätabtreibungen verzeichnet das Statistische Bundesamt für 2001,
 bei insgesamt 134964 offiziell gemeldeten Schwangerschaftsabbrüchen. 

 Experten gehen aber von einer weitaus höheren Zahl aus. So spricht der
 Vorsitzende des Ärzteverbandes Marbuger Bund, Frank Ulrich Montgomery,
 von rund 800 Spätabtreibungen jährlich. Etwa 30 Prozent der nach der 20.
 Schwangerschaftswoche abgetriebenen Kinder würden den Eingriff
 überleben, heißt es.

 Eine dramatische Situation für Pflegepersonal und Hebammen. "Unser Beruf
 ist darauf ausgerichtet, Kindern ins Leben zu helfen, nicht sie zu
 töten", sagt Isolde Brandstetter vom Bund Deutscher Hebammen. "Immer
 wieder stehen wir vor der Frage: Wann schalten wir einen Arzt ein, auch
 wenn die Eltern das nicht wollen? Wer trägt die Verantwortung? Wer
 zahlt?"

 Ein Dilemma auch für die Ärzte: Die Tatsache, dass ein Kind immer
 häufiger als Schaden begriffen wird, sorgt für tiefgreifende
 Verunsicherung. Mit Blick auf das aktuelle BGH-Urteil prognostiziert der
 Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, zwei
 Entwicklungen: Ärzte werden sich aus dem Bereich der vorgeburtlichen
 Diagnostik und Geburtshilfe immer weiter zurückziehen, weil die
 erforderlichen Versicherungen nicht zu finanzieren sind. "Oder aber sie
 raten bei der kleinsten Unklarheit zu einem Schwangerschaftsabbruch."

 Richterschelte hält Hoppe für unangebracht. Die Ursache des Problems
 liege an der "sehr, sehr schlechten Rechtsordnung", sagt er und plädiert
 dringend für eine Fristsetzung. Wenn das Stadium der Lebensfähigkeit
 außerhalb des Mutterleibes erreicht ist, soll Abtreibung auf jeden Fall
 tabu sein.

 Das aber würde bedeuten, den Paragraph 218 neu aufzurollen. Erneut also
 eine Debatte, die in den vergangenen Jahrzehnten die Gesellschaft
 gespalten hat? Die Politik will eine solche grundlegende Debatte nicht:
 Die Union nicht, weil sie fürchtet, dass in einer immer wertfreieren
 Gesellschaft, in der der Mensch zunehmend zur Verfügungsmasse wird,
 selbst der nach mühevollen Diskussionen beschrittene Weg, wonach
 Abtreibungen grundsätzlich "rechtswidrig, aber straffrei" sind, nicht
 mehr zu halten wäre. Die SPD und vor allem Grüne sind nicht sicher, ob
 sie die alten emanzipatorischen bis feministischen Kräfte unter
 Kontrolle halten können.

 Kinder haben keine Lobby, Ungeborene erst recht nicht. Verbündete
 erwachsenen ihnen aber in diesem Fall offenbar in den Ärzten. "Wir
 werden nach der Wahl Druck machen und die Politik nicht aus ihrer
 Verantwortung entlassen", kündigt Hoppe an. Darauf, dass
 Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) ihnen die Lösung des
 Problems über das ärztliche Standesrecht zuschieben wollte, werden die
 Mediziner sich jedenfalls nicht einlassen.

 Einstweilen suchen viele Ärzte eigene Wege aus dem Dilemma. Um sicher zu
 gehen, dass das abzutreibende Baby nicht lebend zur Welt kommt, wird es
 bereits im Mutterleib getötet: durch eine lange Nadel, mit der eine
 Kaliumlösung ins Herz gespritzt wird, durch Injektionen, die die
 Herzklappen verkleben oder durch den Austausch des Fruchtwassers durch
 Desinfektionsmittel.

 Für Hubert Hüppe, Sprecher der Initiativgruppe "Schutz des menschlichen
 Lebens offenbaren sich hier "Formen der Früheuthanasie". Die Praxis der
 Spätabtreibungen und das Urteil des BGH bestätigten "den Trend, dass nur
 noch Menschen auf der Welt sein sollen, die der Norm entsprechen".

 Glücklicherweise gibt es immer wieder Ausnahmen wie Johannes. In der
 Frühphase seines Lebens diagnostizierten die Ärzte bei ihm das Down
Syndrom und gaben der Mutter Elisabeth von Kessel den wohlmeinenden Rat,
 eine Abtreibung in Erwägung zu ziehen. Gemeinsam mit ihrem Mann und
 unterstützt von einem Arzt, der den Blick auf die hohe Lebensfreude
 mongoloider Kinder lenkte, entschied sie sich dagegen. 

 Heute ist ihr Johannes sechs Jahre alt, kerngesund und "das wildeste und
 lebendigste meiner vier Kinder", erzählt die Mutter. 
 

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 Keine Einigung auf Verbot der Spätabtreibungen

 Seit Beginn der Legislaturperiode suchten Koalition und Opposition nach
 einem gemeinsamen Weg, um Spätabtreibungen zu vermeiden. Im Frühjahr
 scheiterten die Gespräche endgültig.

 Unions-Fraktionsvize Maria Böhmer nennt die von CDU und CSU formulierten
 Forderungen: 

 · Beratungspflicht für die Mutter beziehungsweise die Eltern

 · Überprüfung, ob eine medizinische Indikation vorliegt, durch ein
 Ärzte-Kollegium

 · Klarstellung des gesetzgeberischen Willens, dass Behinderung keine
 Abtreibung begründen darf
 · Überprüfung des ärztlichen Haftungsrechts.

 Die Frauenpolitische Sprecherin der Grünen, Irmingard Schewe-Gerigk
 nennt diese Forderungen "zu weitgehend". Ihre Partei und auch die SPD
 lehnt vor allem die Pflichtberatung und die Überprüfung durch ein
 Ärzte-Kollegium ab. Die Koalition will nach den Worten der
 SPD-Frauenpolitikerin Hanna Wolf die Sensibilität der Ärzte schärfen, so
 dass sie Frauen besser informieren können. Ein Antrag von SPD und Grünen
 sieht vor:

 · Festschreibung eines "Rechtsanspruchs auf Beratung" im Mutterpass.

 Dieser Antrag wird aller Voraussicht nach im Juli von der Mehrheit des
 Bundestages angenommen.

 Böhmer will allerdings weiter für den Antrag der Union werben: "Das
 BGH-Urteil hat gezeigt, dass gerade beim ärztlichen Haftungsrecht
 dringend Handlungsbedarf besteht."
 

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