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Trotz Pisa-Schock: Die Politiker dösen in der letzten Bank
Von Susanne Gaschke
(ZEIT, Febr/März 2002)

Drei Monate sind seit dem großem Pisa-Schock ins Land gegangen - und es ist genau das eingetreten, was befürchtet wurde. Die quasiamtliche Erkenntnis, dass an deutschen Schulen nicht alles zum Besten, einiges sogar schlecht steht, hat hektischen Aktionismus entfesselt: Jede Volkshochschule, jeder Elternbeirat, jedes Kultusministerium hält Podiumsveranstaltungen ab, auf denen über Pisa palavert wird, frei nach dem alten Wohngemeinschaftsmotto: Gut, daß wir mal darüber geredet haben. In Buchhandlungen sieht man Kunden ehrfürchtig in der Studie blättern, als könnte die Bildungsmisere durch Berühren des heiligen Gegenstandes ausgetrieben werden.

Doch magische Rituale werden nicht helfen, und der laute Wortschwall der Experten und Möchtegernexperten hält von gründlicherem Nachdenken ab. Pisa hat ein Festival nach dem Mülleimer-Prinzip ausgelöst: Jeder fischt alte bildungspoltische Lieblingslösungen aus dem Papierkorb: Ganztagsbetreuung, Abschaffung des Sitzenbleibens, weniger Differnzierung und mehr Gesamtschule, stärkere Kontrollen und Entbeamtung der Lehre, Beseitigung des 45- Minuten- Unterrichtstaktes - die Liste ist endlos. Und immer klingt es so, als sei jedes einzelne Mittel erstens der einzige Heilsweg und zweitens noch irgendwo in Deutschland ausprobiert worden. Als hätten die deutschen Schüler vor allem deshalb schlecht abgeschnitten, weil unsere Schulen in den vergangenen Jahren zu selten umgekrempelt worden seien.

Leistung gilt als Streberei
Richtig ist das Gegenteil: Im ganzen Bildungsbereich herrscht seit 30 Jahren Hyperaktivität. Seit ihrer Einführung in den siebziger Jahren ist zum Beispiel die gymnasiale Oberstufe in manchen Bundesländern sechs, sieben, acht Mal neu organisiert worden. Und wer heute noch anklagend von „Frontalunterricht“ spricht, kann seit Jahren in keiner Schule mehr gewesen sein. Vielleicht sind Schüler wie Lehrer gerade deshalb verwirrt, weil zu viel, zu oft, zu kurzatmig an den Schulen herumgedoktert wurde - ohne zu überprüfen, ob die Schüler in Teamarbeit, am Computer oder im Projektunterricht wirklich mehr lernen.
Machen wir uns nichts vor: Es gab über Jahre in Deutschland einen Meinungs-Mainstream, der gute, fortschrittliche, „linke“ Methoden kannte: die Entgrenzung, Entformalisierung und Entsystematisierung des Unterrichts - alles eben, was eine Reduzierung des „Leistungsdrucks“ versprach. Und es gab reaktionäre, böse Methoden wie das Kopfrechnen, das Auswendiglernen, das laute Vorlesen, das Von-der-Tafel-Abschreiben - die waren verpönt. Wahrscheinlich braucht effektiver Unterricht von beidem etwas; sicher brauchen Schüler die genaue Kenntnis eines Gegenstandes, bevor sie die Kritik daran üben.
Wenn die Pisa-Debatte weiterläuft wie bisher, wird sie uns mehr vom Gleichen einbringen: hechelnde Reformhektik. Doch vielleicht gelingt es, die Debatte zu wenden: weg von den Methoden, hin zu den Ergebnissen. Also: Können Hauptschüler am Ende der neunten Klasse lesen, schreiebn und rechnen? Kennen sie, wenigstens ungefähr, den Unterschied zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg, zwischen Erst- und Zweitstimme, zwischen erstem und zweitem Fall?
Überließe man es einmal - unter Aussetzung der Dauerreform und der kultusbürokratischen Einmischungslust - den Lehrern, diese Ergebnisse sicherzustellen, man würde positive Überraschungen erleben. In keinem anderen Beruf - nicht bei Ärzten, nicht bei Juristen, nicht bei Fluglotsen - versteigen sich Nichtpraktiker zu so viel Besserwisserei wie in der Schule. Gestünden wir den Lehrern zu, daß sie ihren Job verstehen - wir könnten mit gutem Gewissen verlangen, daß Schulen, daß Bundesländer auf die Qualität ihres Unterrichts hin verglichen werden. Evaluation und Veröffentlichung der Ergebnisse, auch ein bisschen freundlicher Wettbewerb: Das würde die Guten ermuntern und die Schlechten anstacheln.
Die Aufgabe der Bildungspolitiker wäre es in dieser Situation allerdings, loyaler zu ihren Beschäftigten zu stehen - und die Schulen in ihrer Obhut besser gegen rasch wechselnde Reformmoden und die billigen Forderungen der Wirtschaftsverbände zu schützen. Das erfordert Mut zu langfristigen Prioritäten: erst Geschichte, dann Internet- Kunden; erst souveräne Beherrschung der deutschen Sprache, dann Englischunterricht in der Grundschule. Bildung bedeutet nicht in erster Linie vermeintliche Arbeitsmarktverwertbarkeit. Ein wirklich gebildeter Mensch allerdings hat auf dem Arbeitsmarkt mehr Chancen als ein desorientierter Teamarbeits-Zombie.
Doch der Bildungsnotstand bei deutschen Schülern ist weit mehr als ein Stellschraubenproblem der Schulen. Bildung hat im Wer wird Millionär? - Deutschland ein ungünstiges Klima. Warum, zum Beispiel, sollen Kinder lesen, wenn ihre Eltern stundenlang vor den hirnlosen Programmen des Fernsehers sitzen? Warum sollen Jugendliche gern lernen, wenn die Jugendforschung ihnen seit Jahren einredet, in ihrer Altersgruppe habe man null Bock zu haben? Warum sollen sie sich mühsam grundsätzliche Kenntnisse in Literatur, Geschichte, Kunst, Fremdsprachen, Musik und Naturwissenschaften aneignen, wenn den Erwachsenen alles bildungsbürgerliche Wissen als spießig, veraltet und zur Not sowieso im Computer abrufbar gilt? Wenn den jungen Leuten darüber hinaus jede Zeitschrift, jede Plakatwand, jeder Werbespot entgegenruft: Fun, Spaß haben, Konsum - darum geht es im Leben!

Kleinmütige Sozialdemokraten
Wir brauchen die zentrale, aufmerksamkeitsheischende  Kraft der nationalen Politik, um unserer ganzen Gesellschaft ein neues Bildungsbewusstsein zu empfehlen: Ein Bildungsaufbruch hätte mindestens ebenso „Chefsache“ zu sein wie die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit oder der Aufbau Ost und hätte übrigens mit beidem zu tun. Der kleinmütige Hinweis der Sozialdemokraten, Schulfragen fielen in die Länder- Kommunalhoheit, greift viel zu kurz. Der Kanzler hat bereits einmal gezeigt, wie gut sich die Ressource Aufmerksamkeit zentral mobilisieren lässt mit seiner „Alle Schulen ans Netz“- Kampagne. Die war freilich gleichzeitig ein Beispiel, wie man es nicht machen darf: Jetzt stehen die Geräte in den Klassen, durch deren Dächer es noch immer regnet; und es fehlen sowohl die Lehrer, die sie warten, als auch die Lehrpläne, nach denen sie eingesetzt werden sollen.
Daraus läßt sich nur eines lernen: mehr Ausdauer beim Bildungslobbyismus!

Vielleicht werden dann irgendwann die Eltern den Schulen auch wieder anders als mit Misstrauen und am liebsten in Begleitung eines Rechtsanwaltes begegnen. Und sich stattdessen mehr um ihre Kinder kümmern: sich zum Beispiel dafür interessieren, was die eigentlich in der Schule lernen. Das traurigste, aber sehr  aufschlussreiche Nebenergebnis von Pisa war schließlich die Erkenntnis, dass 60 Prozent aller 15-jährigen meinen, Letzteres sei ihren Eltern ganz egal.

(Sagen Sie uns Ihre Meinung zu diesem Artikel unter www.zeit.de/2002/tatortschule)

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