Forum Bioethik Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.02.2002, Nr. 48, S. 58 
 

Wachstumszentrum San Diego zum Ersten: Syrrx und andere Biotech-Firmen analysieren die Zukunft / von Christian Schwägerl

Es ist noch nicht lange her, daß San Diego ein Imageproblem hatte. Als
verschlafener Marinestandort war die südkalifornische Stadt verrufen.
Urlauber auf der Suche nach warmen Wintern kamen nur, wenn sie sich
schickere Orte nicht leisten konnten. Die Stadt hat jedoch eine
erstaunliche Metamorphose vollzogen. Deutlich sind die Konturen einer
neuen High-Tech-Metropole zu erkennen, die in Konkurrenz zu den
anerkannten Zentren der Bio-, Cyber- und Nanowelt tritt, zur Bay Area um
San Francisco und der "Genetown" Boston (F.A.Z. vom 8. Februar). In den
wuchernden Gewerbeparks tauchen Straßennamen aus der Zukunft auf:
Sequence Avenue oder Genetics Drive. 

Der wirtschaftliche Erfolg ist so groß, daß dessen Kehrseiten inzwischen
für die drei Millionen Einwohner der Region spürbar werden: in Form von
Staus, Zersiedelung und steigenden Lebenshaltungskosten. Sie haben
deshalb jüngst einen Stadtrat gewählt, der zuallererst die Umwelt
schützen und die hohe Lebensqualität zwischen Küste, Bergen und Wüsten
erhalten will. Diese grüne Agenda soll die technologische Entwicklung
aber nicht aufhalten, ganz im Gegenteil: Joseph Panetta, Vorsitzender
der regionalen Biotechnologievereinigung "Biocom", glaubt, daß es gerade
die Verbindung ultramoderner Biolabors mit spektakulärer Landschaft, von
High-Tech-Instituten mit Surfparadies ist, was Talente und renommierte
Namen anzieht. Dazu kommt, daß ein Labor-Quadratmeter in San Diego noch
immer um zwei Drittel billiger ist als in der Bay Area. 

Seit dem 11. September hat die Transformation San Diegos einen neuen
Schub bekommen. Plötzlich fällt den Planern auf, daß sie mit der
Pazifikflotte, zahlreichen Luftwaffenbasen und einem Kranz
militärtechnologischer Unternehmen vielleicht keine Altlast, sondern ein
Pfund an der Hand haben. Von Schnittstellen und von Konvergenz ist jetzt
die Rede - von biologischen Problemen wie der Zellanalyse, die mit
Militärsoftware aus der Satellitenerkundung gelöst werden könne, und von
militärischen Problemen, deren Lösung in biologischer Methodik liege,
etwa der Truppenaufstellung nach dem Vorbild neuronaler Netze, der
Entwicklung neuartiger Tarntechniken oder der Abwehr bioterroristischer
Bakterien. Symbol für die neue Symbiose von Stadt und Militär sind
Planspiele, einen der atomgetriebenen Flugzeugträger der Pazifikflotte
an das zunehmend überforderte regionale Stromnetz anzukoppeln. 

Das Bild einer biologisch-militärischen Boomtown flackert auf: bauen
doch Gentechnik und Militär gleichermaßen auf körperliche Fitneß und
überlegene Technologie. Die Ankündigung des amerikanischen Präsidenten,
den Militärhaushalt um rund 48 Milliarden auf 379 Milliarden Dollar zu
erhöhen und zudem ein Elf-Milliarden-Dollar-Programm zur Bekämpfung des
Bioterrorismus aufzulegen, beflügeln diese Vision. Schon gibt es Firmen
wie Titan oder Saic, die Militärtechnik und Lebenswissenschaft unter
einem Dach vereinen. Das serielle Screening von Briefen auf
Anthraxerreger wurde in San Diego entwickelt. 

Wer die neue High-Tech-Metropole bestaunen will, unternimmt am besten
eine zwei Kilometer lange Fahrt vom Torrey Pines State Park zum Science
Center Drive. Fußgänger im klassischen Sinn gibt es in San Diego nicht,
abgesehen von illegalen mexikanischen Landarbeitern, die nachts über die
Highways huschen. Jogger dagegen sind zu Tausenden zu sehen, selbst an
einem Donnerstagnachmittag ist der Strand voll von ihnen. 

Hinauf zum Zentrum dieser radikalen Gesundheitskultur: Rund vierhundert
Biotechnologie- und Medizinfirmen sind auf dem Torrey Pines Hill und
seinem Umfeld auf kleinstem Raum versammelt. "Biotech Beach" wird die
Gegend am Pazifik genannt, auch vom "Goldenen Dreieck" ist die Rede,
gelegen zwischen drei Autobahnen. Viele der Firmen sind aus
Einrichtungen der Grundlagenforschung wie dem Skripps Research
Institute, dem Salk Institute und dem Supercomputer-Zentrum
hervorgegangen. Pharmafirmen wie Novartis, Pfizer und Merck haben
Forschungsabteilungen in diese Nachbarschaft verlegt; auch eine auf
menschliche embryonale Stammzellen spezialisierte Firma gibt es. Weil
der Schwerpunkt eindeutig auf der Biotechnologie liegt, wurde San Diego
von der Implosion lausiger Internetfirmen der "New Economy" weniger
stark getroffen als etwa das Silicon Valley. Zudem ist der Anteil
spannender Grundlagenforschung höher als in San Francisco. San Diego
erhält mit 681 Millionen Dollar pro Jahr knapp dreimal mehr
Projektmittel aus dem Budget der amerikanischen Gesundheitsbehörde NIH. 

Wenig macht die Verwandlung San Diegos sichtbarer als die Tatsache, daß
hier mit den Unternehmen Syrrx, Structural Genomix, GeneFormatics und
Structural Bioinformatics die vier Weltführer auf dem heißesten Gebiet
der Bioforschung konzentriert sind: der Erforschung der Proteine. Das
Erbgut ist eine Bauanleitung, und die Proteine sind das Produkt, die
Bausteine, das Gebäude, der Körper. Fast der gesamte menschliche
Organismus besteht aus einer riesigen Zahl von unterschiedlichen
Eiweißen. Sie werden unablässig mit Hilfe der Geninformation aus
Aminosäuren synthetisiert, um Muskeln aufzubauen, die Nahrung zu
verarbeiten, den Stoffwechsel zu regulieren oder im Gehirn Erinnerungen
zu verankern. Der genetische Bauplan ist fast vollständig entziffert,
maßgeblich durch Wissenschaftler an der Ostküste. Die nächste Biowelle,
die Proteomik, soll nun von der Westküste ins Rollen kommen. 

Raymond Stevens öffnet die Türen zur Fertigungshalle von Syrrx. Er ist
einer der Gründer des Unternehmens und arbeitet im Hauptberuf als
Professor für Molekularbiologie am Skripps-Institut. Am Anfang, erzählt
er, stand die frustrierende Beobachtung, daß selbst seine besten jungen
Proteinforscher mehr als die Hälfte ihrer Zeit mit simplen technischen
Arbeiten zubrachten. Daraus erwuchs Syrrx die schnellste und
effizienteste Industrieanlage der Welt, deren Produkte vollständige
dreidimensionale Modelle von Eiweißstrukturen sind. Mit diesen Modellen
sucht man Angriffspunkte für neue Wirkstoffe. "In der traditionellen
Medizin wird versucht, das Auto bei geschlossener Motorhaube zu
reparieren", sagt Stevens. Haube auf: Mit Hilfe der Proteomik werden die
molekularen Einzelteile des Körpers sichtbar. Ist die dreidimensionale
Struktur von Proteinen bekannt, kann man gezielt nach kleinen
Wirkstoffen suchen, die wie ein Schlüssel ins Schloß passen. Solche
Wirkstoffe lassen sich einsetzen, um Proteine zu blockieren, die bei
Krebs, Arteriosklerose oder Immunkrankheiten Schaden im Körper anrichten
oder die als Gift von tödlichen Bakterien wie dem Anthraxerreger
produziert werden. Doch noch sind nur rund 18 000 der insgesamt vielen
hunderttausend Proteine bekannt. Was Craig Venter bei Celera mit der
Entzifferung des Humangenoms gemacht hat, wird bei Syrrx für Proteine
realisiert: die Vereinigung von Biologie, Robotik und
Fließbandverfahren. 

Stevens führt an einer Produktionskette entlang. Jeden Tag können in der
Halle viele hundert Gene in sogenannte Expressionsvektoren geschleust
werden, also in Lebewesen wie das Bakterium E. coli, die Gene in
Proteine übersetzen. Der Roboter "Sonic Hedgehog" reinigt die Eiweiße
aus den Bakterienhüllen heraus. Dann tritt "Agincourt" auf den Plan, der
größte und schnellste Kristallisationsroboter der Welt. Bis zu 50 000
Proteinproben pro Tag kann er bearbeiten, um sie in Kristalle zu
verwandeln - nur in Kristallform können die Moleküle auf ihre
dreidimensionale Struktur hin abgetastet werden. Schon bald soll
Agincourt so gut sein, daß fünfhundert Kristalle pro Tag zu ernten sind.
"Diese Dimension wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen", sagt
Stevens. Eine weitere Batterie von Robotern wird eigens dafür
konzipiert, aus täglich einer Million Kristallbildern automatisch die
besten auszuwählen. Sind die Proteine dann mit harter Strahlung
abgetastet, verwandelt "Robohuch" die Ergebnisse in aussagekräftige
räumliche Modelle. 

Schließlich läßt die Software "Virtual Ligand Screening" (VLS) täglich
rund eine Million digitaler Wirkstoffe auf die digital simulierten
Proteine prallen, um die effektivsten Wirkstoffe aufzuspüren. Deutsche
Forscher unternehmen mit viel Idealismus und kommerzieller
Bescheidenheit in der Berliner Proteinstrukturfabrik (F.A.Z. vom 21.
Februar) vom Prinzip her ähnliches. Angesichts der Dimensionen und des
Tempos von Syrrx verschlägt es ihnen aber die Sprache. Knapp fünfhundert
Proteinstrukturen habe die Firma und ihr wichtigster Partner, das
Skripps-Institut, im Vorjahr aufgeklärt. In Berlin fängt die
Serienproduktion gerade erst an, fünfzig Strukturen pro Jahr sind
angepeilt. Stevens sieht eine klare Aufgabenteilung: Die akademischen
Forscher sollen sich um wissenschaftlich interessante Proteine kümmern,
die Firmen um die kommerziell und medizinisch relevanten. 

Unweit, bei Structural Bioinformatics, findet die Proteinforschung fast
nur noch im Computer statt. Der CEO, Edward Maggio, läßt militärische
Software einsetzen, um neue Medikamente zu entwickeln. Programme, die in
Satellitendaten Panzer aus einer Landschaft filtern, analysieren nun
Proteine und ihre Mutationen. Sie suchen in den Eiweißen verschiedener
Typen des HI-Virus oder des Anthraxerregers nach Regionen, die sich
trotz hoher Mutationsraten nicht verändern. Auf solche konstanten
Regionen können die Krankheitserreger offenbar nicht verzichten - wer
sie mit Wirkstoffen attackiert, kann die Viren und Bakterien vielleicht
unschädlich machen und Resistenzen gar nicht aufkommen lassen. In den
Datenbanken der Firma lagern bereits sechstausend Proteinstrukturen, die
ausschließlich dem Rechner entsprungen sind und dennoch, so Maggio,
jeden Realitätstest bestehen würden. "Die Zukunft der Proteomik liegt im
Computer", sagt er. Wer vollen Zutritt zu den Datenbanken will, muß
viele Millionen Dollar auf den Tisch legen. Irgendwann, hofft er, werden
alle Bausteine des menschlichen Körpers in seinem Computer gespeichert
sein. 

Raymond Stevens und Edward Maggio halten es nicht für Zufall, daß die
vier Weltmarktführer der Strukturproteomik in San Diego konzentriert
sind. Das Weiche, Komplexe, Veränderliche, Lockere der Proteine paßt
kulturell zu Kalifornien, so wie die eher steifen, statischen Gene der
Ostküste näherstehen. Joseph Panetta von der Branchenvereinigung Biocom
setzt nun darauf, daß noch mehr Risikokapitalfirmen und erste
Investmentbanken in die Stadt kommen. Wer ihm zuhört, dem erscheint San
Diego als Symbolstadt des einundzwanzigsten Jahrhunderts: Die
Biotechnologie boomt, die hochqualifizierte Bevölkerung ist im
Gesundheitsrausch, die Stadtverwaltung kämpft um Grün und um Kapital,
die Dritte Welt drängt über die nahe Grenze, das Militär will
expandieren. Dieses Gemisch sei ziemlich aufregend, findet Panetta; er
ist ein wachsamer und aggressiver SimCity-Spieler. San Diego habe das
Zeug zur Weltspitze, sagt er ganz unbescheiden, hier werde einfach
besser kooperiert und eher in akademisch-kommerziellen Netzwerken
gedacht als in der eitlen, konkurrenzgetriebenen Bay Area. Sein Blick
ist trotzdem hinauf nach San Francisco gerichtet, wo die großen,
gereiften Firmen sitzen. Und zum Horizont, hinüber nach Asien, wo in
Japan, China und Singapur neue, konkurrierende Biozentren heranwachsen.
 

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