Schriftenreihe des "Freundeskreises Fritz Bauer"
Texte über den ehemaligen Generalstaatsanwalt in Braunschweig und Frankfurt am Main
Fritz Bauer (1903- 1968)

Heft 4:

Menschenrechte
Einführende Texte über Fritz Bauer und seine Stellungnahmen zu
Menschenrechten, Straflosigkeit und dem Vergeltungsrecht

 

1.Widerstandsrecht und Menschenrechte

2. Fritz Bauer und der Kampf gegen Straflosigkeit

3. Fritz Bauer und das Vergeltungsstrafrecht

1.Widerstandsrecht und Menschenrechte
Der Impuls des Fritz Bauer und sein Bezug zu modernen Menschenrechtsorganisationen

"Widerstand bedeutet Eintreten für eigne oder fremde Menschenrechte, die vorenthalten, verletzt oder gefährdet werden".
So steht es in dem Aufsatz von Fritz Bauer, den er im Jahr 1962 unter dem Titel "Das Widerstandsrecht des kleinen Mannes" veröffentlicht hat. (1)

1962 ist das Jahr vor dem Auschwitz-Prozess (1963-1965). Es ist auch ein Jahr nach der Gründung der "Humanistischen Union" im Jahr 1961, an der Fritz Bauer wesentlich mit beteiligt war. Und etwa seit drei Jahren liefen seine Ermittlungen gegen NS-Juristen und gegen Verantwortliche der Euthanasie-Aktionen (seit 1959).

Widerstand ist einer Zentralbegriffe von Fritz Bauer, die sein Denken und Handeln prägten. Und wie in dem obigen Zitat zu sehen ist, ist es für ihn eng mit dem Eintreten für Menschenrechte und im weiteren Sinn auch für Menschenwürde verbunden.

1961 wird amnesty international gegründet
Das Eintreten für Menschenrechte erscheint als ein neuer Impuls, der heute überall gegenwärtig ist. Sehr bekannt geworden ist es sicherlich durch amnesty international, der Menschenrechtsorganisation, die 1961 in London von dem Rechtsanwalt Peter Benenson gegründet wurde und heute weltweit mehr als 2,7 Millionen Mitglieder und Unterstützer in zahlreichen Ländern hat.

Grundlage für amnesty international ist die Erklärung der Menschenrechte, die am 10.Dezember 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet worden ist. Diese Erklärung der Menschenrechte hat eine lange Tradition, in der sicherlich das Jahr 1776 in Amerika und die Französische Revolution von 1789 eine besondere Rolle spielen.

1961 entsteht auch die Humanistische Union in Deutschland
Im selben Jahr, in dem ai gegründet wird, entsteht auch unter Mitwirkung von Fritz Bauer in Deutschland die Humanistische Union, die als unabhängige Bürgerrechtsorganisation sich für den Schutz und die Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte einsetzt. Nach Wikipedia ist die Humanistische Union, die 1961 in München gegründet wurde, die älteste heute bestehende Bürgerrechtsorganisation in Deutschland.

"Im Mittelpunkt steht für uns die Achtung der Menschenwürde. Wir engagieren uns für das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und wenden uns gegen jede unverhältnismäßige Einschränkung dieses Rechts durch Staat, Wirtschaft und Kirchen."(2)

Sicherlich unterscheiden sich die Humanistische Union und amnesty international in ihrem konkreten Handeln, die Grundmotive sind aber durchaus vergleichbar. Amnesty international geht es um die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen und die Bestrafung der Täter, man arbeitet u.a. gegen Folter, Todesstrafe, politischen Mord und Verschwindenlassen von Menschen.

Auch das spielt bei Fritz Bauer eine Rolle. Nun ist er in erster Linie mit der Aufarbeitung der NS-Verbrechen beschäftigt. Sein Ansatz geht aber weit darüber hinaus. Allerdings findet er in Deutschland ein völlig anderes Umfeld vor als Peter Benenson seinerzeit in England.

Deutschland befindet sich noch in der Adenauer-Ära, in der in den 50iger Jahren Hans Globke im Bundeskanzleramt und Hermann Weinkauff am Bundesgerichtshof wesentlich das politische und juristische Geschehen prägen - mit den Nachwirkungen weit in die 60iger Jahre hinein. Menschenrechtsimpulse haben es in dieser Zeit in Deutschland nicht leicht.

Fritz Bauer geht es dabei zum einen insbesondere um die "Humanität der Rechtsordnung", verbunden mit zahlreichen Vorschlägen zur Strafrechtsreform, aber darüberhinaus auch um eine konkrete Verfolgung der NS-Verbrechen, wobei sich die Anliegen von ihm und von ai in einem Punkt treffen: es geht gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen und für das Eintreten für Menschenrechte. Gerade der Begriff der Straflosigkeit spielt hier eine besondere Rolle.

Das Jahr 1215
Auch wenn das Jahr 1215 nun schon lange zurückliegt, hat es bis in die Gegenwart eine große Bedeutung. Es ist ein entscheidendes Jahr für die Entwicklung der Demokratie und der Menschenrechte. Und ausgerechnet in diesem Jahr gibt es wieder enge Bezüge zwischen England und Deutschland. Es ist das Jahr der Magna Charta in England und in diesem Jahr erscheint auch in Deutschland bzw. im Deutschen Reich der "Sachsenspiegel" von Eike von Repgow. Immer wieder weist Fritz Bauer in seinen Vorträgen, Interviews und Aufsätzen auf dieses Jahr hin, selbst im Plädoyer des Remer-Prozesses wird es erwähnt.

In einem weiteren wegweisenden Aufsatz von 1962 äußert sich Fritz Bauer dazu folgendermaßen (3):

"Ihre bedeutendste Formulierung fanden Widerstandsrecht und Widerstandspflicht im Sachsenspiegel: 'Der Mann muss auch seinem König, wenn dieser Unrecht tut, widerstehen und helfen, ihm zu wehren in jeder Weise, selbst wenn jener sein Verwandter oder Lehnsherr ist. Damit verletzt er seine Treuepflicht nicht.' Der Sachsenspiegel stammt aus dem Jahr 1215. Es ist das Jahr der Magna Charta, die ihrerseits das Widerstandsrecht der englischen Barone geregelt hat. England und die ganze demokratische Welt blicken stolz auf das Jahr 1215. Deutschland, dessen Demokratie bisher historische Markensteine zu entbehren schien, hätte allen Anlass, seines Jahres 1215 zu gedenken, in dem Eike von Repgow dem Selbstbewusstsein und der Selbstverantwortung deutscher Menschen ein Denkmal setzte. Der Sachsenspiegel hat zwar nicht wie die Magna Charta Schule und Geschichte gemacht, er ist aber doch ein auch noch in unsere Zukunft weisendes Zeichen demokratischer Mündigkeit." (Hervorhebung von U.D.)

Fritz Bauer führte im weiteren aus, dass das Widerstandsrecht germanisch sei. "Es ist dem demokratischen Denken und Handeln der Germanen zu danken. Was wir nicht im Corpus Juris finden, steht unter anderem in der Edda, deren Volksversammlungen und Gesetzessprecher mit ihren Herrschern wie mit 'Schweinehirten' umsprangen."(4)

Widerstand gab es zwar auch in Rom, z.B. tötete Brutus den Cäsar. "Aber ein Widerstands-recht oder eine Widerstands-pflicht waren dem Imperium Romanum, dem Weltreich der Cäsaren fremd." (5)

Mittelalter und Widerstandsrecht
"Die mittelalterliche Kirche wurde mit dem germanischen Widerstandsrecht konfrontiert. Zwei Welten prallten zusammen... Die Idee eines Gottesgnadentum war römisch, sie wurde formell übernommen. Die Vorstellung, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgehe, lag außerhalb des Erlebnisbereiches, außerhalb der Interessen und außerhalb der Phantasie der römischen Christen. Dagegen basierten die germanischen Staatsgründungen auf der Verantwortung aller Freien für ihre politische Geschichte. Theorie und Praxis der Demokratie, der Volkssouveränität und des Widerstandsrechts, kurz, eine Regierung von Volkesgnaden standen in einem schwer überbrückbaren Gegensatz zu der römisch-christlichen Vorstellung eines göttlichen Kaiser- und Königtums. Eine Synthese war - besonders auch in Hinblick auf den Investiturstreit - schon aus Kirchenräson geboten.
Die Bibel ließ die Antwort offen." (6)

In der Bibel gibt es in Hinblick auf den Staat bzw. die Obrigkeit sehr unterschiedliche Sichtweisen, die z.T. gegensätzlich sind und sich gegenseitig ausschließen. Zum einen ist da das Pauluswort, nach dem jedermann der Obrigkeit , die Gewalt über ihn hat, untertan sein sollte, denn es "ist keine Obrigkeit ohne Gott". Die entgegengesetzte Auffassung findet man in dem Satz der Apostelgeschichte "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen". Schließlich gibt es noch die Kompromissformel im Markusevangelium: "Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist, und Gott, was Gottes ist". - Die katholische Kirche hatte dann eine "Tyrannenlehre"  (mit Bezug auf Cicero) entwickelt und bezog das Widerstandsrecht damit auf einen "Tyrannen", denn der Tyrann sei nicht Obrigkeit, sondern nutzte den Staat für sich aus.

"Insofern war das germanische Widerstandsrecht von der katholischen Kirche rezipiert. In einem wichtigen Punkt nahm sie jedoch eine Änderung vor. In Abweichung von dem germanischen Widerstandsrecht, das demokratisch jedem Freien zustand, wurde das Widerstandsrecht der Kirche aristokratisch ausgestattet. Es wurde den 'majores' oder 'meliores' anvertraut, womit in erster Linie der Klerus gemeint war. Diese Einschränkung ist auch für die heutige Diskussion noch von Belang; sie wird in der katholischen Diskussion, aber auch in protestantischen Kreisen ... vertreten."(7)

In anderer Form taucht die Form einer Einschränkung des Widerstandsrechts auch in den 50er Jahren bei Hermann Weinkauff, dem Präsidenten des Bundesgerichtshofes, auf.

Protestantismus und Widerstandsrecht
"Die protestantische Diskussion des Widerstandsrechts stand durch Jahrhunderte hindurch unter dem unglücklichen Stern des obrigkeitsstaatlichen Denkens... Die Widerstandsproblematik war dem Bedürfnis der christlichen Gemeinde fremd und war fast völlig aus der politischen Ethik ihrer Theologen verschwunden. Pietistische Einflüsse, die zu einem Rückzug des Protestantismus aus der politischen Welt führten, haben mitgewirkt." (8)

Erst nach dem Zusammenbruch des NS-Staates gibt es hier wieder eine neue Diskussion. Der Bezug zu Luther ist dabei nicht ganz einfach. Immerhin spielt das Berufen auf das Gewissen eine wichtige Rolle. Auch der Satz aus der Apostelgeschichte "Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen" taucht in zahlreichen Variationen bei ihm auf. Luther kennt den Ungehorsam, den passiven Widerstand. Einen aktiven Widerstand sah er nur für den Fall einer völligen Pervertierung des Staates.

Widerstandsrecht in England und Amerika
Anders als in Deutschland konnte sich das Widerstandsrecht in England kontinuierlich entwickeln.

"Heimstätte des Widerstandsrechts wurde in der Folge England und dann Amerika. Die Magna Charta schuf einen Widerstandsausschuss von 25 Baronen, aus dem sich das Unterhaus und die englische Demokratie entwickelte." (9)

Die amerikanischen Staaten haben dann die Menschenrechte konstituiert - das Widerstandsrecht gehörte dazu. Massachussetts drückte es 1775 mit folgenden Worten aus: "Widerstand ist weit davon entfernt, verbrecherisch zu sein. Es ist christliche und soziale Pflicht eines jeden." (10)

Widerstandsrecht in Deutschland
In Deutschland verlief die Entwicklung ganz anders, fast entgegengesetzt. Der Absolutismus hatte sich herausgebildet, das Widerstandsrecht spielte fast keine Rolle mehr. Ansätze dazu waren eher bei Schiller im "Wilhelm Tell" und zum Teil bei Goethe im "Egmont" zu finden. Im weiteren schreibt Bauer dazu: " Die deutschen Philosophen haben dem Widerstandsrecht den Garaus gemacht." (11)

Immer wieder kritisiert Fritz Bauer Kant und Hegel. Ethisches Handeln bedeute nach Kant Pflichterfüllung ohne Rücksicht auf Inhalt und Zweck des Tuns; ein Widerstandsrecht wird von Kant ausdrücklich bestritten. (12) 

Und "Hegel vergötzte den Staat, indem er die reine Staatsräson eines Macchiavellismus in den Bereich einer politischen Ethik erhob... Die  Gegner der Staatsräson und seiner Machtphilosophie bezeichnete er als 'kannegießerndes Publikum, eine interesse- und vaterlandslose Menge, deren Ideal von Tugend die Ruhe der Bierschänke ist'. So lehrte er den Gehorsam gegenüber der Realität und die normative Kraft des Faktischen. Die Juristen zogen die Konsequenzen eines sturen Gesetzespositivismus.... Reichs- und Kammergericht folgten...Nach dem Kammergericht ist der 'Staat als höchste Rechtsmacht rechtlich an keine Schranken mehr gebunden'...Damit war Auschwitz von vornherein legalisiert. (13)

Erst die Opposition im NS-Staat hat sich des Widerstandsrechtes erinnert. Fritz Bauer schreibt dazu:

"Professor Kurt Huber hat im Schlusswort des Prozesses gegen die Geschwister Scholl nach Jahrzehnten, ja fast Jahrhunderten fast völligen Verschweigens eines Rechts oder einer Pflicht zum Widerstand die Grenzen jeder Staatsgewalt umrissen. ' Es gibt für alle äußere Legalität des Bürgers eine Grenze, wo sie unwahrhaftig und unsittlich wird. Legales Verhalten des Bürgers wird unsittlich, wenn es zum Deckmantel einer Feigheit wird, die sich nicht getraut, gegen offensichtliche Rechtsverletzungen aufzutreten." (14)

Widerstand und Menschenrechte
Über das Verhältnis von Widerstand und Menschenrechten äußert sich Fritz Bauer folgendermaßen:

"Nicht jeder Kampf für ein neues - besseres oder schlechteres  - Gesetz ist Widerstand. Widerstand meint Verwirklichung eigener oder fremder Menschenrechte. (hervorgehoben von U.D.) Widerstand ist ein Spezialfall der Notwehr oder - wenn Widerstand zugunsten Dritter ausgeübt wird - der Nothilfe. Er setzt einen Angriff oder Eingriff in Grundrechte oder ihre Vorenthaltung voraus. Da aber Menschenrechte keinen statischen Inhalt ein für allemal haben, umfasst Kampf für sie nicht nur Widerherstellung eines früheren, verlorengegangenen Status, er kann auch einem Neuland gelten, das zu erobern ist." (15)

Das Widerstandsrecht gilt für Fritz Bauer nicht nur im innerstaatlichen Bereich, sondern überschreitet auch die nationalen Grenzen. "Es steht nicht nur jedermann zu, sondern kann auch zugunsten von jedermann ausgeübt werden." (16) Beispiele sieht Bauer hier etwa in der "resistance" oder auch im Verhalten des General Osters, der die  neutralen, auch durch Nichtangriffspakte geschützten Länder Dänemark, Norwegen, Belgien und Holland vor dem deutschen Angriff warnte (allerdings ohne dass seinen Informationen geglaubt wurde). Im weiteren erinnert Bauer auch an Gandhi oder den südafrikanischen Anti-Apartheids-Politiker und Friedensnobelreisträger Albert Luthuli. (17)

Aber Bauer betont, "der große Widerstand  im Unrechtsstaat bleibt nur möglich, wenn der kleine Widerstand gegen das Unrecht im staatlichen Alltag geübt und wie eine kostbare Pflanze gehegt und gepflegt wird". (18)

Ein wichtiger Satz, den man durchaus beherzigen sollte. Und damit wirkt Fritz Bauer auch in die Zukunft hinein. Es ist einfach zu eng, Fritz Bauer nur im Zusammenhang mit den NS-Verbrechen zu sehen. Sein Impuls ging weit darüber hinaus. Zu empfehlen ist hierbei das Buch von Perels/ Wojak: "Die Humanität der Rechtsordnung", in dem zahlreiche Aufsätze von Fritz Bauer über Widerstandsrecht, Menschenrechte und eine humane Rechtsordnung erschienen sind. Es ist erhältlich über das Fritz Bauer Institut in Frankfurt a.M. (www.fritz- bauer-institut.de)

ai und Humanistische Union
Abschließend noch eine Bemerkung zum Vergleich von amnesty international und der Humanistischen Union. Sie sind nicht nur im gleichen Jahr entstanden (1961) und haben ähnliche Ziele – sondern in Deutschland haben sie sogar die gleiche Adresse: Beide Organisationen haben ihre Büros (neben anderen Regionaladressen) in Berlin in der Greifswalder Straße 4. Es ist ein großer Gebäudekomplex mit Hinterhöfen im Prenzlauer Berg, in dem einige Menschenrechtsorganisationen und andere NGOs untergebracht sind. Und beide Organisationen sind Mitglied im Forum Menschenrechte, einem Netzwerk von zur Zeit 52 deutschen NGOs, die sich weltweit für einen verbesserten, umfassenden Menschenrechtsschutz  einsetzen – in verschiedenen Regionen der Welt, in einzelnen Ländern und in der Bundesrepublik Deutschland.

Udo Dittmann, Braunschweig

Anmerkungen:
1. Fritz Bauer, Das Widerstandsrecht des kleinen Mannes, In : Fritz Bauer: Die Humanität der
       Rechtsordnung. Hrsg von J.Perels/ I.Wojak. Frankfurt.1998. S.207-214
2. siehe Webseite der Humanistischen Union, www.humanistische-union.de, dort: Was ist die
    Humanistische Union?
3. Fritz Bauer: Widerstandsrecht und Widerstandspflicht des Staatsbürgers, in: In: Fritz
    Bauer: Die Humanität der Rechtsordnung. Hrsg von J.Perels/ I.Wojak. Frankfurt.1998.
    S.181- 206. S.182
4. a.a.O. S.182
5. a.a.O. S.181f
6. a.a.O. S.183f
7. a.a.O. S.184f
8. a.a.O. S.185
9. a.a.O. S.187
10. ebenda
11. a.a.O. S.188
12. ebenda
13. a.a.O  S.189
14. a.a.O. S.190
15. a.a.O  S.191
16. a.a.O. S.192
17. a.a.O. S.195
18. a.a.O. S.197

 

2. Fritz Bauer und der Kampf gegen Straflosigkeit

Straflosigkeit als Begriff ist eher neu. Zwar wurde schon immer davon gesprochen, dass Täter nicht straflos bleiben sollten, aber einen besonderen Stellenwert erhielt der Begriff eigentlich erst durch die Verwendung von Menschenrechtsorganisationen.

Bei amnesty international spielt der Kampf gegen Straflosigkeit eine besondere Rolle. Nicht zuletzt durch das Erleben der Militärdiktaturen in Lateinamerika in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, als viele der Folterer und der für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen zunächst straflos blieben.

Der Kampf gegen Straflosigkeit wurde ein zentrales Thema bei ai. In den 90iger Jahren bildete sich in der deutschen Sektion eine eigene KoGruppe (d.h. Koordinationsgruppe) dazu, die Fälle von Straflosigkeit untersucht und die Überwindung der Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen fordert. Dort heißt es u.a. in einem Flyer:

"Gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen
Straflosigkeit verweigert den Opfern von Menschenrechtsverletzungen drei fundamentale Rechte: Das Recht auf Wahrheit, das Recht auf Rechtsprechung und das Recht auf Entschädigung...
Werden die Täter nicht im Rahmen eines Strafverfahrens identifiziert und verurteilt, erhalten ihre Opfer häufig weder materielle Entschädigung noch moralische Rehabilitierung...
Die Straflosigkeit liefert damit Menschen der Schutzlosigkeit aus, signalisiert potentiellen Tätern, dass auch zukünftig schwerste Menschenrechtsrechtsverletzungen hingenommen werden, und untergräbt die Wiederherstellung rechtsstaatlicher Zustände auf Jahre hinaus. Die Überwindung der Straflosigkeit ist daher effektiver Menschenrechtsschutz. (Hervorhebung von U.D.)
Viele Staaten sind jedoch nicht in der Lage oder nicht willens, Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land strafrechtlich zu verfolgen. Daher muss gewährleistet werden, dass Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen nach dem Weltrechtsprinzip international geahndet werden können." (1)

Insbesondere in den 90er Jahren hat es hierzu wichtige Entwicklungen auf internationaler Ebene gegeben:
- Gründung des internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, dessen Statut am 17.Juli 1998 in Rom von den Vereinten Nationen angenommen wurde (als wichtiger Schritt zur Umsetzung der Verpflichtung der internationalen Staatengemeinschaft, gegen schwere Menschenrechtsverletzungen vorzugehen)
-  die Einrichtung von internationalen Strafgerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda
- die "Wahrheitskommissionen", die in den 90er Jahren in vielen Ländern (vor allem in Südamerika und Afrika) gebildet wurden Die Wahrheits- und Versöhnungskommission, die 1996-98 in Südafrika tätig war, galt dabei als Vorbild für die meisten späteren Wahrheitskommissionen (2)

Fritz Bauer und "Straflosigkeit"
Auch Fritz Bauer ging es um "Straflosigkeit" bzw. um ein Eintreten gegen Straflosigkeit. In Gesprächen mit Vertretern von amnesty international wird Fritz Bauer immer zuerst in diesem Zusammenhang gesehen.

Während Bauer sich einerseits für ein reformiertes, liberales Strafrecht  und einen Strafvollzug einsetzte, bei dem die Würde des Menschen im Vordergrund stand, war  ihm darüberhinaus auch eine Aufarbeitung der deutschen Geschichte wichtig. "Er wusste, dass eine demokratische Gesellschaft und ein neuer deutscher Staat nur dann entstehen können, wenn die Menschen aus der Vergangenheit lernen. Dies bedeutete, Geschichte nicht zu verdrängen, sondern sich zu ihr zu bekennen, sich zu erinnern. Fritz Bauers Verdienst ist ganz wesentlich in seinem konsequenten Bemühen um die juristische Aufarbeitung mit den Verbrechen der Nazizeit zu sehen. Er wollte die Täter zur Rechenschaft ziehen, aber nicht nur die Ausführenden, die unmittelbar Handelnden, sondern auch die Schuldigen hinter den Schreibtischen, Planer, die Teilnehmer an den Konferenzen, schließlich auch jene, die die Tolerierung und Nichtverfolgung von grauenhaften Verbrechen verabredeten.".(3)

Dabei ging es ihm um Gerechtigkeit, nicht um Sühne und Vergeltung. Ziel war die Überwindung der Straflosigkeit - insbesondere und vor allem bei NS-Verbrechen. Wie dies ablief, zeigte sich u.a. bei seinem energischen Handeln in Frankfurt.

Die "Übernahmefreudigkeit" von Fritz Bauer
Als Generalstaatsanwalt in Frankfurt zog Fritz Bauer zahlreiche Verfahren an sich, darunter auch welche, die nicht in die Zuständigkeit der Frankfurter Justizbehörden fielen, insbesondere das Auschwitz-Verfahren.

"Im April 1959 hatte Fritz Bauer erwirkt, dass der Bundesgerichtshof nach §13a GVG Frankfurt für die Durchführung des Auschwitz-Verfahrens  für zuständig erklärte. Das war nicht selbstverständlich. Der Tatort (Oswiecim/ Auschwitz) - lag außerhalb der deutschen Grenzen, und der erste Zugriff auf die in Rede stehenden Auschwitz-Täter war in Baden-Württemberg." (4)

Wegen seiner "Übernahmefreudigkeit" (5) hatte Fritz Bauer mit Personalsorgen zu kämpfen und wurde auch von seinen Mitarbeitern in zunehmenden Maße verlassen. "Keine andere Strafverfolgungsbehörde im Bundesgebiet hatte damals eine solche Arbeitslast an NSG-Verfahren (6) zu tragen wie die Frankfurter Justizbehörden.... Die ungeheure Verfahrenslast musste bewältigt werden, ohne dass die für eine ausreichende Personalausstattung der Justizbehörden verantwortlichen politischen Stellen entsprechend reagierten."(7)

Kurz nach der Übernahme des Auschwitz-Verfahrens im April 1959 kam Ende des Jahres ein neues Großverfahren hinzu. Prof.Dr. Werner Heyde, der Leiter der medizinischen Abteilung der KdF (Kanzlei des Führers) und Verantwortliche der Euthanasie-Aktion unter dem Tarnnamen "Aktion T4", hatte sich selbst am 12. November 1959 in Frankfurt gestellt.

In dem Zusammenhang mit diesem Verfahren gegen Heyde folgten nun die weiteren Verfahren gegen das Personal der "Aktion T4" (d.h. gegen Ärzte und Pfleger) sowie das Verfahren gegen die Juristen, die den Anstaltsmord juristisch deckten, d.h. insbesondere gegen die Teilnehmer der Konferenz vom 23./ 24. April 1941, deren Vorsitz der Staatssekretär Prof. Dr.Schlegelberger hatte.

"Verständnis für seinen Wunsch, gegen die hochrangigen Juristen in Hessen ein Verfahren einzuleiten, konnte Fritz Bauer um so weniger erwarten, als die Zuständigkeiten der hessischen Strafverfolgungsbehörden durchaus nicht auf der Hand lag. Zwar kann auch der sog. Tatort eine Zuständigkeit begründen (§7 StPO). Tatort waren u.a. der Konferenzort Berlin und die sechs "offiziellen" Tötungsanstalten, die es nicht nur im hessischen Hadamar, sondern mit der Anstalt Grafeneck auch in Baden-Württemberg gegeben hatte. Den Ausschlag geben konnte somit die wahlweise neben der Tatortzuständigkeit gegebene Wohnsitzzuständigkeit. (§ 8 StPO). Von den anfangs noch lebenden dreißig Beschuldigten wohnte aber kein einziger in Hessen. (Hervorhebung von U.D.) Für die Strafverfolgung erschienen also die außerhessischen Länder eher prädestiniert. So kam besispielsweise eine Übernahme durch die Staatsanwaltschaft in Flensburg in Betracht. In Flensburg lebte Staatssekretär a.D. Schlegelberger, der Leiter der Konferenz vom 23.April 1941." (8)

Da es für viele Nachkriegsjuristen kaum denkbar erschien, die Elite der NS-Juristen als Mordgehilfen des NS-Staates anzuklagen, war eine Initiative der außerhessischen Staatsanwaltschaften unwahrscheinlich. Eine Strafverfolgung von Schlegelberger zum Beispiel wurde durch den Generalstaatsanwalt von Schleswig-Holstein sogar ausdrücklich mit der Begründung abgelehnt, "die deutsche Gerichtsbarkeit sei durch den mit den westlichen Alliierten geschlossenen sog. Überleitungsvertrag an einer Verfolgung Schlegelbergers gehindert, da dessen Beteiligung an der 'Aktion T4' Gegenstand des Nürnberger Juristenprozesses gewesen sei." (9)

Problem der Verjährung
Als weiteres großes Problem gestaltete sich die Situation angesichts der drohenden Verjährung. " In der NS-Zeit geleistete Beihilfe zum Totschlag verjährte am 8.Mai 1960. Nur bei einer nicht mit Sicherheit zu erwartenden - Verurteilung wegen Mordes wäre die Verjährungsfrist erst am 8.Mai 1965 abgelaufen. Ein am 23.März 1960 von der SPD-Bundestagsfraktion eingebrachter Gesetzesentwurf, der im Ergebnis zu einer Verlängerung der Verjährung geführt hätte, wurde vom Bundestag abgelehnt". (10)

Untätigkeit der außerhessischen Staatsanwaltschaften
Fritz Bauer befand sich somit wegen der beabsichtigten Anklage gegen hochrangige NS-Juristen in einer besonders schwierigen Situation, die durch zwei markante Merkmale gekennzeichnet war:
- die Untätigkeit der anderen außerhessischen Staatsanwaltschaften
- die drohende Verjährungsfrist (8.Mai.1960) bei Beihilfe zum Totschlag

Das Vorgehen Fritz Bauers
Die Dramatik dieser Situation und das entscheidende Vorgehen von Fritz Bauer wird von Helmut Kramer anschaulich beschrieben:

"In dieser schwierigen Situation suchte und fand Fritz Bauer den einzig gangbaren Weg: Einleitung eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren in Hessen mit der Erwartung, die hessischen Staatsanwälte durch alsbaldige Abgabe des Verfahrens an ein anderes Bundesland entlasten zu können, vielleicht sogar mit der Aussicht einer Rückübernahme des Verfahrens zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich wenn nach Beendigung des  Auschwitz-Prozesses der Frankfurter Justiz neben den anderen 'Euthanasie'- Prozessen ein weiterer großer Prozess zugemutet werden konnte" (11)

Helmut Kramer führt weiter aus:

"Für die Verwirklichung dieses Plans benötigte er freilich einen außerhessischen Rückhalt. Diesen fand er nun ausgerechnet in dem Generalstaatsanwalt des Landes Schleswig- Holstein, Dr. Adolf Voss. In einer stundenlangen Besprechung zwischen Fritz Bauer, Adolf Voss und Generalstaatsanwalt Max Güde kam es am 2.Mai 1960 zu einer gütlichen Einigung.  Darin hieß es unter anderem:
1. Die Unterbrechung der Verjährung der Taten der in dem Schreiben vom 22.April 1960 genannten Chefpräsidenten, Generalstaatsanwälten, ihrer Vertreter und etwaiger weiterer Täter soll durch die Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Frankfurt a.M. veranlasst werden.
2. Nach Unterbrechung der Verjährung soll der Vorgang erneut dem Herrn Generalbundesanwalt zwecks Bestimmung der mit der Durchführung des Verfahrens zu betrauenden außerhessischen Staatsanwaltschaft vorgelegt werden." (12)

Fritz Bauer leitete am 3. und 5.Mai 1960 im Ermittlungsverfahren gegen zunächst 29 Beschuldigte wegen Beihilfe zum Mord ein. "Durch die von Fritz Bauer beschleunigt erwirkte richterliche Vernehmung von Professor Heyde durch das Amtsgericht Frankfurt wurde die Verjährung rechtzeitig, vier Tage vor dem Verjährungsstichtag 8.Mai 1960, unterbrochen." (13)

Lustlose Ermittlungen der Stuttgarter Staatsanwaltschaft
Das Verfahren bezüglich der Konferenz vom 23./ 24. April 1941 wurde auf Antrag Fritz Bauers durch den Generalbundesanwalt der Staatsanwaltschaft Stuttgart zugewiesen. "Diese wollte nach lustlos betriebenen Ermittlungen schon im Mai 1961 das Verfahren einstellen" (14) Erst als vom Stuttgarter Justizministerium Bedenken dagegen geäußert wurden, wurden die Ermittlungen weitergeführt.
Es gab eine Fülle von Hindernissen, mit denen Fritz Bauer zu tun hatte. Es ließe sich noch weit mehr aufzählen. Umso höher muss der Verdienst von ihm eingeschätzt werden, trotzdem zu Ergebnissen zu kommen.

Konnten die Ermittlungen endlich beginnen, musste er sich dann mit Konstruktionen von Strafrechtlern, Strafverteidigern und Richtern auseinandersetzen, die die Angeklagten entlasten sollten. Begrifflichkeiten wie "Verbotsirrtum" bei Pflegern und "Pflichtenkollision" bei Ärzten wurden ins Spiel gebracht. Verantwortliche für den Anstaltsmord sollten zum Beispiel nicht als Täter, sondern nur als Gehilfe qualifiziert werden. Man begann Sanktionsfreiheit zu fordern, wenn man als Täter einige Opfer rettete, während man viele andere getötet hatte usw. Die Entlastungsstrategien, die immer vorgebracht wurden, gab es waren zahlreich und können in diesem Rahmen nicht weiter ausgeführt werden.

Was es kaum in juristischen Kreisen gab, war das Entsetzen über die begangenen Taten. Deutlich wurde das, als nach dem plötzlichen Tod von Fritz Bauer 1968 die Ermittlungen ab 1971 stillschweigend eingestellt wurden. Erst durch einen Aufsatz von Helmut Kramer im Jahr 1984 wurden Ermittlungen wieder aufgenommen.

Überwindung der Straflosigkeit
Nun aber wieder zurück zu den anfänglichen Ausführungen über Straflosigkeit.
Zum einen konnte man sehen, wie es Fritz Bauer darum ging, Täter zur Rechenschaft zu ziehen - und zwar in einem Umfeld, in dem es in erster Linie darum ging, zu verdrängen oder die Täter zu entlasten.

Das Beeindruckende bei Fritz Bauer ist dabei, dass er sich in seiner Vorgehensweise und der Argumentation auf die Begriffe "Vergehen gegen die Menschlichkeit", "Kriegsverbrechen" und "Völkermord"  berief. Das waren Werte und Begrifflichkeiten, die nach dem Krieg von den westlichen Alliierten geprägt worden waren und ihren Niederschlag im sog. "Kontrollratsgesetz Nr.10" (KRG Nr.10) fanden. Die Gerichtsverfahren in den ersten Nachkriegsjahren hatten sich in den westlichen Zonen daran zu orientieren und ermöglichten so maßgeblich eine Verurteilung von NS-Kriegsverbrechern. -

Genau das versuchten aber die deutschen Juristen - wenn möglich  - zu verhindern. Sie wollten nach "deutschem Recht" urteilen, das diese Begrifflichkeiten nicht enthielt. Nach der Gründung der Bundesrepublik wurde dann schließlich die Rechtsprechung nach dem KRG Nr.10 abgeschafft - ein wesentlicher Schritt neben anderen, Straffreiheit für NS-Täter zu ermöglichen sowie ihre Rehabilitierung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft der Bundesrepublik voranzubringen. Die Folgen waren gravierend.

Gegen diesen Strom wandte sich Fritz Bauer - und wurde entsprechend angefeindet. Trotzdem erreichte er, dass zahlreiche Ermittlungen durchgeführt oder wieder aufgenommen wurden und die - wie im Fall der Auschwitz-Prozesse - auch zu Verurteilungen führten.

Die Begrifflichkeiten und Werte des KRG Nr.10 waren ihm dabei immer wieder wichtig. Eigentlich hatte er schon Jahre vorher im Exil in Schweden an der Ausarbeitung ähnlicher Begrifflichkeiten gearbeitet und dies in einem Buch mit dem Titel "Die Kriegsverbrecher vor Gericht" im Jahre 1944 veröffentlicht. Im Grunde beschreibt er da schon die Tatbestände, die dann im KRG Nr.10 formuliert werden. Das sind aber die Inhalte und Werte, die später Grundlage für die Rechtsprechung des Internatonalen Strafgerichtshofes werden - Werte, die u.a. Leitmotiv für moderne Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international sind.

Inzwischen bekennt sich auch die Bundesrepublik Deutschland zu diesen Werten; die Arbeit des internationalen Strafgerichtshofes und seine Prinzipien werden anerkannt. Auch die Arbeit von ai findet hierzulande eine hohe Akzeptanz. Wie anders sah es da noch nach dem Krieg aus, als man hier versuchte, diese Werte zu umgehen und in manchen Kreisen sogar als "Siegerjustiz" versuchte zu diffamieren.

Es ist das Verdienst von Fritz Bauer, sich an diesen Werten zu orientieren. Er nahm sie in seinem Kampf gegen Straflosigkeit als Richtschnur - gegen den Widerstand vieler Berufskollegen. Inzwischen sind diese Werte anerkannt als wesentliches Fundament bundesdeutscher Justiz und Rechtsprechung.

Mögen auch entsprechend die Handlungsweisen und Initiativen von Fritz Bauer Vorbild bleiben - gegen Untätigkeit, Gleichgültigkeit und Vergessen. Auch in unserer Zeit. Der Kampf gegen Straflosigkeit ist vielschichtig und hochaktuell - national wie international. Möge es daher viele Menschen wie Fritz Bauer geben - darunter auch Politiker und Juristen, die sich in dieser Weise für das Recht einsetzen. Bequem und einfach ist es nicht... aber unbedingt wichtig für eine demokratische Gesellschaft. Und dieses Feld kann nicht nur allein Menschenrechtsorganisationen überlassen werden...

 

Anmerkungen:
 1. siehe Faltblatt von amnesty international: Internationaler Strafgerichtsgerichtshof und Völkerstrafgesetz. Zur internationalen Strafverfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Bonn. 2010.
2. siehe www.wikipedia.org/wiki/Wahrheitskommission. Dort sind auch zahlreiche weitere Beispiele für Wahrheitskommissionen zu finden, z.B. in Ländern wie Chile, El Salvador, Guatemala, Liberia, Marokko, Osttimor, Peru, Sierra Leone, Südkorea.
3. Loewy Hanno/ Winter, Bettina: NS-"Euthanasie" vor Gericht. Fritz Bauer und die Grenzen juristischer Bewältigung Frankfurt.1996. S.7f
4. Kramer, Helmut: "Gerichtstag halten über uns selbst". Das Verfahren Fritz Bauers zur Beteiligung der Justiz am Anstaltsmord. In: Loewy/ Winter S.81- 132, hier S.88
5. Vermerk des Abteilungsleiters III im Kieler Justizministerium; siehe Kramer S.120
6. NSG  bedeutet: Nationalsozialistische Gewaltverbrechen
7. Kramer S.89
8. Dass niemand der 30 Beschuldigten in Hessen wohnte, schien kein Zufall zu sein. Helmut Kramer weist darauf hin, dass sich viele NS-Täter nach 1945 in den Bundesländern wie z.B. Schleswig-Holstein und Niedersachsen niederließen, in denen sie die geringste Verfolgungsgefahr und die größten Wiedereinstellungschancen und Karrieremöglichkeiten sahen, wozu Hessen offensichtlich nicht zugehörte (siehe auch Kramer S.121).
9. Kramer S.89
10. Kramer S.89/ 90
11. Kramer S.90
12. Kramer S.90
13. Kramer S.90
14. Kramer S.91

 

3. Fritz Bauer und das Vergeltungsstrafrecht

Die Frage der Strafrechtsreform und des Vergeltungsrechtes haben Fritz Bauer immer wieder beschäftigt. Dabei war auch gerade der humane Strafvollzug ein wichtiges Anliegen für ihn. Insgesamt scheint nicht vieles davon umgesetzt worden zu sein.

Bei der Beschäftigung mit dem Thema, insbesondere bei der Frage des Vergeltungsrechtes, kam mir ausgerechnet immer wieder der Bezug zu Mozart und den Aussagen in seiner "Zauberflöte", um die Gedanken von Fritz Bauer erfassen zu können. Da Fritz Bauer aber Mozart kaum erwähnt (im Gegensatz zu vielen anderen Dichtern, Schriftstellern und Philosophen) und er auch eher ein Theaterliebhaber als Operngänger war, war ich etwas unsicher, ob ich den Text so verfassen könnte. Allerdings drängte sich der Bezug zu Mozart mir immer wieder auf.

So wählte ich den Weg, den Text erst einmal Helmut Kramer, dem ehemaligen Richter in Wolfenbüttel, zu schicken, um eine Rückmeldung zu erhalten. Er ist ja doch einer der größten Kenner von Fritz Bauer und als Jurist vielleicht eher ein nüchterner und sachlicher Kritiker. Über die Rückmeldung war ich dann ganz erstaunt und fand es als beeindruckende Bestätigung der in dem Text nur kurz erwähnten Passagen zur Musik und zu Mozart.

Und Helmut Kramer erweitert die Gedanken auf ganz konkrete und reale Bezüge der Strafrechtsreform, der Situation in den Gerichtssälen und Gefängniszellen. Da es sehr unvollständig wäre und sicherlich keinen direkten Eindruck von seiner Stellungsnahme gäbe, möchte ich die Antwort von ihm zu dem Text im folgenden ungekürzt wiedergeben. Gerade in seinen Worten spürt man die ungeheure Aktualität von Fritz Bauer und dass es viele Bereiche gibt, mit denen Bauer sich beschäftigt hat und die noch als offene Aufgabe vor uns liegen.

Im folgenden die Stellungnahme von Helmut Kramer:

"Also in aller Kürze:
Ihr Text als solcher ist wunderbar, auch ganz im Sinne von Fritz Bauer.
Einbeziehen könnten Sie vielleicht noch stärker die Tatsache, dass Fritz
Bauer in seinen eigenen Veröffentlichungen immer wieder darum bemüht war,
seine juristischen und rechtspolitischen Forderungen auch mit Entlehnung aus
Philosophie und Literatur und der übrigen Kunst zu begründen. In seinen
vielen Schriften danach zu suchen, kostet allerdings Zeit.

Erlauben Sie mir noch eine Anmerkung: Nicht nur bei Ihnen, sondern auch bei
vielen anderen kommt etwas zu kurz: nämlich die Frage, inwieweit die
Vergangenheit etwas mit den Forderungen der Gegenwart zu tun hat. Konkret
auf Ihren Text bezogen: Die „heil’gen Hallen“ von heute befinden sich in den
Gerichtssälen und – noch ein Schritt konkreter – in den Einzel- und
Gemeinschaftszellen der Strafvollzugsanstalten.

Für eine von Freunden und mir vorbereitete Tagung zur NS-Justiz ist
unabdingbar auch bei einem solchen Thema: der Gegenwartsbezug. Zu den
meisten Einzelthemen und Aspekten haben wir auch kompetente Referenten
gefunden. Mit Ausnahme eines einzigen Historikers, der sich inzwischen aber
auch von dem Thema verabschiedet hat, gibt es in der ganzen Bundesrepublik
keinen einzigen Rechtsprofessor oder sonstigen Wissenschaftler, der sich des
Themas „Strafvollzug im 20. Jahrhundert“ angenommen hat. Und es ist auch
schwierig, einen Referenten zu finden, der sich – sei es als Jurist, sei es
als Soziologe – kritisch mit den heuten Zuständen im Strafvollzug
beschäftigt. Und damit sich um eine Humanisierung des Strafvollzuges bemüht,
jene Humanisierung, die eines der wichtigsten Anliegen von Fritz Bauer war.

Ob der Freundeskreis Fritz Bauer in dieser Richtung selbst etwas unternehmen
kann? Ich fürchte, Fritz Bauer, wäre er noch am Leben, wäre angesichts des
heutigen Desinteresses der Gesellschaft an einem humanen Strafvollzug
ziemlich enttäuscht."

Und nun der Text über das Vergeltungsstrafrecht und Fritz Bauer:

 

Gegen das Vergeltungsstrafrecht
Anmerkungen zu Fritz Bauers Gedanken zur Strafrechtsreform

Fritz Bauer schwebte eine Reform des Strafrechts vor, in der das traditionelle Vergeltungsstrafrecht überwunden werden sollte. Das Vergeltungsstrafrecht hatte in der Vergangenheit die Strafgerichtsbarkeit bestimmt und fand nicht zuletzt in dem Bild von der Justitia mit verbundenen Augen und der Waage in der Hand seinen bildhaften Ausdruck. "Auge um Auge, Zahn um Zahn". Dieses Denken zieht sich durch die Kulturen hindurch und "letztlich wusste (auch) Kant über den Vergeltungsgedanken hinaus keine rechte Antwort auf die Frage, was Recht ist oder nicht". (1)

In seinem Buch "Auf der Suche nach dem Recht" (2) und in zahlreichen anderen Aufsätzen untersucht Fritz Bauer diese Fragestellung. Angesichts der Tatsache, dass er es in seinen Prozessen mit NS-Tätern mit schweren und schwersten Menschenrechtsverletzungen zu tun hatte, kommt er zu erstaunlichen Ergebnissen: nicht um Vergeltung geht es ihm, sondern um individuelle Strafe.

Um eine Vorstellung von dem zu erhalten, worum es Fritz Bauer dabei geht, möchte ich zwei Beispiele anführen, die er zwar selber an keiner Stelle erwähnt, die aber zu seinen Gedanken hinführen und diese etwas verständlicher machen können.

Mozart und die "Zauberflöte"
Bauer war eher Theaterliebhaber. In seinen Aufsätzen und Plädoyers kommen häufig Dichter und Dramatiker zu Wort, weniger Musiker. Und doch gibt es gerade bei Mozart eine Passage, die als Quintessenz des Bauerschen Rechtsempfinden gelten könnte. In der "Zauberflöte" von Mozart gibt es eine Stelle, in der der weise Priester Sarastro die Worte ausspricht:
    
          In diesen heil'gen Hallen
          kennt man der Rache nicht,
          und ist ein Mensch gefallen,
          führt Liebe ihn zur Pflicht.

In diesen Worten kommt der Gedanke der Liebe zum Ausdruck, der die Rache überwindet. Der Täter, der gegen Gesetze verstoßen hat, soll wieder auf die rechte Bahn geführt werden. Vielleicht könnte man so die Ideen von Bauer zum Strafrecht bzw. zur Strafrechtsreform als den Versuch ansehen, die Kerngedanken Mozarts in praktisches Recht umzusetzen.

Luther: Der "strafende" und der "gnädige" Gott
In ganz anderer - und nicht direkt vergleichbarer - Weise taucht bei Luther der Begriff der "Gnade" auf. Hier ist der Bezug zu Bauer nicht so direkt wie bei Mozart, aber der Begriff der Gnade bedeutet, dass es etwas Größeres gibt, als nur gerecht zu sein.

Luther ist als junger Mensch erfüllt von der Angst vor dem "strafenden" Gott. Am 2.Juli 1505 hat er während eines Gewitters ein einschneidendes Erlebnis. Er hat solche Angst und Todesfurcht, dass er beschließt, Mönch zu werden.

Hier zeigt sich bei  Luther noch das christliche Verständnis des mittelalterlichen Menschen, das bestimmt ist von der Angst vor Hölle und Fegefeuer. "Luther hat furchtbare Angst vor dem jüngsten Gericht, vor dem strafenden Gott, der nach dem Tod über den Menschen Gericht hält... Kein Mensch auf Erden, denkt er, sei er auch noch so bemüht und rechtschaffen, werde je vor Gott bestehen können. Denn jeder Mensch sündigt, jeder Mensch hat Phasen in seinem Leben, in denen er sich gegen Gott entscheidet. Das bedeutet also, wenn Gott gerecht wäre, müsste der Mensch nach seinem Leben und seinen Taten in jedem Fall gerichtet und bestraft werden." (3)

Als er später den "gnädigen" Gott entdeckt, ist das ein wichtiges und gravierendes Erlebnis für ihn. Es bedeutet für Luther, dass Gott größer ist, als nur gerecht zu sein, indem der Mensch auch durch Gnade erlöst werden kann.

Das Vergeltungsstrafrecht - der Jurist als Buchhalter
Das geltende Strafgesetzbuch zu den Zeiten von Fritz Bauer ging  auf  ein Gesetz vom 15.Mai 1871 zurück "Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund vom 31.Mai 1870 wurde damals zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich erklärt. Grundlage war das Preußische Strafrecht von 1851, das seinerseits wieder durch den Code Pénal von 1810 beeinflusst worden war. Das Gesetz atmet die Luft der Aufklärung: die Philosophie des deutschen Idealismus hat Pate gestanden. Ziel des Strafrechts war im Anschluss an Kant die Vergeltung des Unrechts. Hegel sah im Verbrechen die Negation des Rechts und in der strafrechtlichen Reaktion des Staates die Negation der Negation." (4)

Erst am Ende des  19.Jahrhunderts wird der Vergeltungsgedanke in Frage gestellt  und als Ziel des Strafrechts und des Strafvollzuges die Verbrechensverhütung angesehen. "Die Aufgabe ist, den Straffälligen wieder zu einem möglichst nützlichen Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu machen." (5)

Gegen Straflosigkeit
Resozialisierung des Täters bedeutet aber keine Straflosigkeit. Der Täter soll auch nach Bauer zur Rechenschaft gezogen werden, es soll durchaus ein Prozess erfolgen. Ziel ist aber nicht Vergeltung des Unrechts, sondern Wiedereingliederung, wobei in besonders schweren Fällen auch eine Sicherheitsverwahrung möglich sein sollte, sofern die Gesellschaft vor einem Täter dauerhaft geschützt werden muss.

In Hinblick auf eine Strafrechtsreform in Deutschland schlägt Fritz Bauer 1959 z.B. einen konkreten Katalog von Maßnahmen strafender, bessernder und sichernder Art vor, wobei das Gericht das Vorleben des Täters, seine persönlichen und sozialen Verhältnisse berücksichtigen sollte. (5)

Im Grunde gilt dies auch für NS-Täter. Was Bauer aber nicht behagte, war eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft ohne Gerichtsverfahren. Sein Handeln war ein Kampf gegen das Vergessen. Dabei ging es ihm aber nicht um Rache und Vergeltung. Sein Ansatz war viel umfassender und gestand auch jedem Täter ein Grundrecht an Menschenwürde zu, um wieder positiver Teil der Gesellschaft werden zu können. Die Ablehnung der Todesstrafe war deshalb für ihn auch selbstverständlich. (6)

U.D.

Anmerkungen:
1. Fritz Bauer: Auf der Suche nach dem Recht. Stuttgart 1966. S.42
2. siehe Anmerkung 1.
3.Martin Luther. In: Planet Wissen, www.planet-wissen.de/kultur-medien/religion/martin_
luther/index.jsp. S.3
4.Fritz Bauer Gedanken zur Strafrechtsreform. Wie steht die SPD zum Entwurf der Großen Strafrechtskommission? (1959). In Perels/ Wojak: Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Frankfurt 1998. S. 233
5. a.a.O. S 234
6. Fritz Bauer: Gegen die Todesstrafe (1958). In Perels/ Wojak a.a.O: S. 393-397

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