Bericht zur Konferenz (Teil 2):


NS-"Euthanasie"-Verbrechen in europäischer Perspektive
vom 28. - 30. Januar 2013 in Berlin (Kleisthaus)

unter der Schirmherrschaft des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen

3. Tag:
Mittwoch, der 30.01.2013

PD Dr. Gerrit Hohendorf (München): Die Krankenmorde in der besetzten Sowjetunion und ihre Erinnerung

Gerrit Hohendorf ist am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der TU München tätig. Der Vortrag beschäftigte sich mit den Krankenmorden in der besetzten Sowjetunion. Nicht berücksichtigt sind Gebiete wie der Balkan, Italien, Frankreich und andere Länder, in denen auch jeweils Krankenmorde stattgefunden haben.

Bei den Krankenmorden ging es u.a. um die "Reinigung" des deutschen Volkskörpers von unerwünschten Elementen. Die Idee hierzu entstand im ausgehenden 19.Jahrhundert, wobei nach dem 1.Weltkrieg eine erhebliche Radikalisierung einsetzte. Hitler war sich später der Zustimmung in der Bevölkerung aber nicht sicher, so dass er eine gesetzliche Regelung 1935 ablehnte. Er verwies dabei auf einen kommenden Krieg, wo solches leichter durchführbar sei.

Zur Durchführung der Tötungen in der besetzten Sowjetunion gab es verschiedene Einsatzgruppen der SS und des SD:
- Einsatzgruppe A - Heeresgruppe Nord
- Einsatzgruppe B - Heeresgruppe Mitte (Weißrussland)
- Einsatzgruppe C - Heeresgruppe Nördliche. u. mittlere Ukraine
- Einsatzgruppe D - Heeresgruppe Südliche Ukraine, Krim, Kaukasus

Ausschlaggebend für die Tötungen war der Befehl von Heydrich vom 2.Juli 1941. Damit sollten insbesondere "unnütze Esser" beseitigt werden. Eine wichtige Rolle spielte dabei das SS-Einsatzkommando Lange.

Ein Schwerpunkt der Ausführungen lag auf der Situation der Krankenanstalt in Mogilew (Weißrussland). Hier wurden verschiedene Versuche zur Tötung von Anstaltsinsassen unternommen, z.B. auch die Tötung durch Sprengung. Eine Probevergasung erfolgte Mitte September 1941, von der es auch Filmaufnahmen gab (davon wurden einige Ausschnitte gezeigt). Die Patienten wurden - wie an anderen Orten - nach arbeitsfähig/ arbeitsunfähig klassifiziert. Die Arbeitsunfähigen wurden getötet. - Die Namen der Opfer sind kaum bekannt, da die Unterlagen von den NS-Tätern vernichtet wurden. Ähnlich wie in Mogilew wurden auch in anderen Krankenanstalten in den besetzten Gebieten vorgegangen. Über die Rolle der Wehrmacht dabei ist noch wenig bekannt; bisher wurde kaum dazu geforscht

Im Jahr 2009 wurde in Mogilew ein Mahnmal errichtet, worüber in Weißrussland ausführlich berichtet wurde. In Deutschland gab es dagegen kaum Berichte.- Die Initiative für das Mahnmal war eine reine Bürgerinitiative, die aus einer Partnerschaft von Mogilew und Heidelberg entstanden war. Weder Politik und Presse waren daran beteiligt. Inzwischen ist es eines der gelungenen Beispiele für Aufarbeitung, Gedenken und Erinnerung.

Weitere Denkmäler gibt es u.a. in der Ukraine (z.B. in Kiew). Ein Denkmal dort erinnert insbesondere an die Krankenschwestern, die versuchten, Patienten zu schützen. Fehlten bei den Tötungsmaßnahmen Patienten, wurde die fehlende Zahl durch Krankenschwestern "aufgefüllt". Zahlreiche Krankenschwestern wurden dadurch ermordet.

Statement (außerplanmäßig)
Bernd Knabe (Magdeburg), Forum Bioethik e.V.: Statement zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention

In einem kurzen, außerplanmäßigen Statement forderte Bernd Knabe, dass die Politik die Vorgaben der UN-Behindertenkonvention entsprechend umsetzen sollte. Hier gäbe es noch viel zu tun.

Marcin Pryt (Lodz): Initiative für die Erinnerung an die Mordopfer im Krankenhaus Kochanowka in Lodz (in engl.Sprache):

Eine sehr ungewöhnliche Initiative stellte Marcin Pryt aus Lodz in Polen vor. Er hatte eine Rockband gegründet, die in ihren Liedtexten auf die Tötungen im Krankenhaus Kochanowka in Lodz hinwies. Mit diesen Texten trat die Band in Technoclubs und auf Punkkonzerten auf. Daraus entstand schließlich eine Initiative zur Erinnerung an die Mordopfer. Inzwischen wurde auch eine CD mit der Musik und den Texten aufgenommen - es war sozusagen eine "tönende Erinnerungstafel". Zielgruppe waren zunächst junge Leute, die sehr unvorbereitet mit den Texten konfrontiert wurden; inzwischen ist das Publikum (trotz der Rockmusik) sehr gemischt. - Zur Anschauung wurde ein Ausschnitt aus einem Videofilm von einem Konzert gezeigt.

Durch die Rockkonzerte wurde auch eine Gedenktafel finanziert. Allerdings hatte es zunächst wenig Unterstützung von Politik und Wissenschaft gegeben. Selbst die Recherchen zu den Krankenmorden wurden von Künstlern vorgenommen; so wurden auch unerschlossene Aktenbestände erforscht. Die Gedenktafel wird voraussichtlich im März 2013 eingeweiht.

Podiumsdiskussion:
"Was ist die europäische Perspektive des Gedenkens?"
Mit Artur Hojan (Koscian/PL), Robert Parzer (Pregarten/A), Michael Simunek (Praha/CZ), Dr. Stefanie Endlich (Berlin/D) - Moderation: Stefan Schenck

 

Während es in Deutschland inzwischen eine starke Gedenkkultur gibt, sind die Krankenmorde z.B. in Polen noch fast unbekannt. Dort treten sie hinter den Massentötungen in den KZs zurück. - In Deutschland ist die Gedenkkultur eher ein bürgerschaftliches Phänomen, während im Osten das Gedenken einen staatlichen Charakter hat. So gibt es z.B. in Polen ein Institut für nationales Gedenken. Allerdings wies Artur Hojan darauf hin, dass das staatliche Gedenken in Polen meist nicht funktioniere.

Der Begriff T4 stehe inzwischen für Krankenmorde insgesamt, obwohl es sachlich nicht ganz richtig sei. Auch in England, der Schweiz und dem Vatikan habe es Krankentötungen gegeben. Insgesamt sollte der Komplex weiter gesamteuropäisch untersucht werden. Es gäbe noch zu wenig Forschung für einzelne Regionen und Länder (z.B. Südosteuropa), andererseits stehe die vorhandene Forschung allzu oft unverbunden nebeneinander. Auch würden oft keine Übersetzungen angefertigt, was zusätzlich erschwerend wirke.

 

14 Uhr
Offizielle Gedenkfeier des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe

Vorbemerkung:
Die Feier begann am 30.01.2013 um 14 Uhr - genau 80 Jahre nach der Vereidigung Hitlers zum Reichskanzler (14.30 Uhr), nur einige Straßen von diesem Ort entfernt. Der Völkische Beobachter kommentierte dies Ereignis am nächsten Tag damals mit den Worten: "Jetzt wird auf allen Ebenen mit dem Saubermachen begonnen..."

Die Feier selbst fand auch im Saal des Kleisthauses statt. Mehrere Bundestagsabgeordnete nahmen daran teil (Ulla Schmidt, Claudia Roth u.a.) sowie mehrere Wissenschaftler. Es war die 4.Gedenkveranstaltung dieser Art seit 2010, jeweils mit einer anschließenden Kranzniederlegung an der Tiergartenstraße 4.

Eröffnung:
Hubert Hüppe (MdB), Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen

Er wies in seiner Rede zum einen auf die bedrückende Tatsache hin, dass viele der Täter nach dem Krieg nicht behelligt wurden, ja sogar im Gegenteil oft ihre normalen Arzttätigkeiten weiter ausüben konnten. In der Nähe seines eigenen Wohnortes in Münster habe so der ehemalige T4-Gutachter Verschuer den ersten Lehrstuhl für Humangenetik erhalten, und für die Opfer sei es noch besonders perfide gewesen, dass ausgerechnet ehemalige NS-Gutachter nach dem Krieg als neue Gutachter bei der Überprüfung ihrer Fälle herangezogen wurden.

Hubert Hüppe berichtete, dass er gerade aus dem Bundestag komme, wo am Vormittag Inge  Deutschkron ihre Rede zum Holocaust-Gedenktag gehalten habe. Und sie habe dabei auch nach den Ursachen der Massenmorde gefragt. - Gerade am Beispiel der Euthanasie-Verbrechen könne man sehen, wie alles aus sehr kleinen Anfängen entstanden sei. Und wenn man sieht, was an Hass gegenüber Behinderten z.B. auch in der Diskussion um Pränataldiagnostik erscheine, sähe man, dass das Thema durchaus aktuell sei.

Vortrag:
Daniela Martin (Journalistin): "... die Blumen haben fein geschmeckt". Aus dem Leben meiner Urgroßmutter Anna L. (1893- 1940)

Daniela Martin, selber Journalistin, hat ein Buch über ihre Urgroßmutter Anna Lorenz geschrieben, die 1940 in Pirna/ Sonnenstein im Rahmen der T4-Aktion getötet wurde. Erst spät habe sie in ihrer Familie darüber erfahren. In ihrer Rede betont sie in besonderer Weise das Schweigen in der Familie. Eher zufällig erfuhr sie als 25jährige davon und begann sich mit der Lebensgeschichte ihrer Urgroßmutter zu beschäftigen. Daraus entstand ein Buch, das 2010 im Verlag Stiftung Sächsische Gedenkstätten mit dem Titel "... die Blumen haben fein geschmeckt." erschienen ist. Die Urgroßmutter hatte viele Jahre in der Psychiatrie verbracht, wahrscheinlich litt sie an Schizophrenie.

Weshalb gab es das Schweigen in der Familie? Auch dieser Frage versuchte Daniela Martin nachzugehen. Als einen Grund nennt sie vielleicht auch das Fehlen einer Gedenkkultur, z.B. einer Gedenkstätte damals in Pirna oder in Arnsdorf, wo ihre Verwandte vorher untergebracht war.- Dann auch das Schämen über die Krankheit der Urgroßmutter, die in der Familie als verrückt galt. Darüber wurde nicht gesprochen. - Zwar gab es Entrüstung in der Familie über die Vergehen der Russen, Polen und Franzosen, aber über die Euthanasie wurde geschwiegen. Hinzu kam noch eine mögliche Furcht vor Erbkrankheiten und eine Angst vor Ärzten. Auch sei erst im Jahre 2010 eine Entschuldigung des leitenden Psychiaters der Einrichtung erfolgt.

Nach ihrer Rede gab es einen weiteren Beitrag von zwei Menschen mit Behinderungen, die Texte zum Thema NS-"Euthanasie" vortrugen. Zwischen den Beiträgen wurden verschiedene Klavierstücke u.a. von Brahms auf dem Flügel gespielt.

 

15.30 Uhr
Kranzniederlegung in der Tiergartenstraße 4 (10785 Berlin)

Nach der Gedenkfeier fand ein Bustransfer zur Tiergartenstraße statt. Die Teilnehmer versammelten sich vor der Gedenkplatte, an der Kränze niedergelegt wurden. Der Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe hielt eine kleine Gedenkrede. Diese war leider nicht gut zu verstehen, da es kein Mikrofon und Lautsprecheranlage gab. Trotzdem war es eine würdige Veranstaltung, die etwa gegen 16 Uhr beendet war.

Vielleicht könnten hier bei späteren Gedenkveranstaltungen die Rahmenbedingungen etwas verbessert werden. Ein kleines Zelt für die Vortragenden mit einer Lautsprecheranlage wäre schön, da diese Feiern jeweils im Januar stattfinden werden, wo oft mit schlechtem Wetter und Kälte zu rechnen ist.

Noch einige abschließende Bemerkungen zur Konferenz
Es war sicherlich eine sehr erfolgreiche und wichtige Veranstaltung. Es wäre schön, wenn es dazu eine Nachfolgeveranstaltung gäbe. Vielleicht könnte dann die Presse auch stärker einbezogen werden. Das fehlte diesmal etwas. Gerade auch, um das Thema stärker in die Öffentlichkeit zu bringen. Dadurch könnte die allgemeine Unkenntnis über das Thema sowie das häufige Schweigen in den Familien überwunden werden.

U.Dittmann (Mai 2013)

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