"Wenn alle einen Krimi wollen, dann schreibe ich eben auch einen..."

Ein Kriminalroman über die NS-"Euthanasie" und ein Sachbuch als Krimi

Über die Bücher "Grafeneck" von Rainer Gross (2007) und "Der Fall Leipzig (alias Fall "Kind Knauer") und die Planung der NS-'Kindereuthanasie' " von Udo Benzenhöfer (2008)

Es ist schon enorm und etwas außergewöhnlich, wenn über eine Euthanasie-Anstalt ein moderner Kriminalroman geschrieben wird, der inzwischen auch an den Schulen in Baden Württemberg gelesen wird, da es sich um die T4-Anstalt Grafeneck auf der Schwäbischen Alb handelt. Man muss vielleicht auch etwas an das Buch von Jean Ziegler "Wie kommt der Hunger in die Welt" (2002) denken, das er als UNO-Sonderbotschafter für Ernährung und Sachbuchautor für Kinder und seinen Sohn geschrieben hat, das häufig an den Gymnasien in Frankreich gelesen wurde.

Über das Buch von Rainer Gross gibt es inzwischen zahlreiche Sekundärliteratur und Interpretationshilfen für Schüler. (1) Der Roman wurde als literarisches Thema für die Abschlussprüfung an Realschulen in Baden-Württemberg 2012 ausgewählt, und es hatte 2008 den renommierten Friedrich-Glauser-Preis (in der Kategorie Bester Erstlingsroman) erhalten. Eigentlich wollte Gross einen normalen Roman über die Schwäbische Alb schreiben, aber da seine anderen bereits fertig gestellten Romane nicht veröffentlicht wurden, entschloss er sich zum Genre des Kriminalromans. "Wenn alle einen Krimi wollen, dann schreibe ich eben auch einen. Obwohl ich selbst kein Krimileser bin, reizte mich an dem Genre die Rekonstruktion von Wirklichkeit, die dabei im Mittelpunkt steht. Im Herbst 2004 begann ich mit der Niederschrift." (2)

Bei den Recherchen stieß er auf das Buch "Die Juden und ihre Heimat Buttenhausen" von Günther Randecker sowie auf die Schrift "Grafeneck 1940" von Thomas Stöckle, dem Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, mit dem Gross später auch immer wieder zusammenarbeitete. In dem Roman wird das jüdische Leben in Dörfern um Grafeneck einbezogen sowie die Geschichte der Behinderten und ihrer Abtransporte mit den grauen Bussen nach Grafeneck. Und das am Beispiel von Mutz, der behinderten Schwester des inzwischen 61jährigen Lehrers Hermann Mauser, der die Hauptperson des Romans ist. Mauser muss noch oft an sine Schwester denken, die 1940 nach Grafeneck gebracht und dort vergast wurde. Er selber ist ein etwas kauziger Lehrer, der sehr an Heimatgeschichte interessiert ist, gern Motorrad fährt und die Schwäbische Alb erkundet, auch geologisch. Bei einem seiner Motorradausflüge entdeckt er in einer Höhle eine Leiche, die mumifiziert ist und noch aus der NS-Zeit stammen muss...

Der Roman ist spannend geschrieben, manchmal auch etwas langatmig, aber auch liebevoll, kritisch und heimatverbunden. Die Erinnerung an Mutz spielt bei Mauser noch eine große Rolle, da er sie sehr mochte. Die Lebensgefährtin von Mauser, Veronika, beschäftigt sich mit der Geschichte der Juden in den umliegenden Dörfern und besucht oft den jüdischen Friedhof in ihrem Ort. An einigen Stellen tauchen in dem Roman dann doch geschichtliche Ungenauigkeiten auf (z.B. dass die Euthanasie-Aktionen bis 1944 stattgefunden hätten; oder dass der Leiter der Vergasungsanstalt, Dr.Dieter Schumann 1945 ermordet worden sei (3)) Dies stört jedoch nicht weiter, da es ja kein Sachbuch, sondern ein Krimi ist, und das eigentliche Geschehen dadurch nicht beeinflusst wird. Sehr genau sind dagegen die Landschaftsbeschreibungen und geologischen Begriffe, die Rainer Gross verwendet.

Seit dem Erscheinen des Buches hat die Zahl der Besucher, insbesondere auch von Schulklassen, in der Gedenkstätte Grafeneck deutlich zugenommen,  worauf Thomas Stöckle von der Gedenkstätte hinweist. Das Buch scheint also auch konkrete Auswirkungen auf die Erinnerungskultur zu haben.

Ganz anders ist das Buch von Udo Benzenhöfer über den "Fall Leipzig" (4). Etwa zeitgleich mit dem Roman "Grafeneck" erschienen, schlüsselt es die Hintergründe und Entstehung der NS-"Kindereuthanasie" auf und zeigt, wie oberflächlich und teilweise sachlich falsch das Thema bisher behandelt wurde.

Dabei muss er feststellen, dass es zum einen ausgesprochen wenig Literatur zu dem Thema gibt und dass zweitens zahlreiche sachliche Fehler in der bisherigen Literatur vorhanden sind, die insgesamt zu falschen Vorstellungen über die "Kindereuthanasie" geführt haben, insbesondere bei Benzenhöfer selber. So muss er gleich zu Anfang seine eigenen früheren Forschungen relativieren, die insbesondere auf den Arbeiten von Ernst Klee, Karl Heinz Roth, Götz Aly und Philppe Aziz. aufgebaut hatten (5) Auch internationale Autoren, die zu dem Thema gearbeitet haben, wie Burleigh und Friedlander, werden kritisiert, da sie wichtige Quellen nicht berücksichtigten. (6)

Einen besonderen Stellenwert bei der Untersuchung hat einerseits das Buch von Ernst Klee: "Euthanasie" m NS-Staat. Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" (1983) sowie die Ermittlungen der Frankfurter Staatsanwaltschaft von 1962, die 2005 in einem Berliner Verlag auch als Buch erschienen sind. (7) Allerdings betont Benzenhöfer, dass auch das Buch von Ernst Klee zum Teil nur mit Vorsicht zu lesen sei und bei einer Neuherausgabe dringend überarbeitet werden müsse, da es zahlreiche Ungenauigkeiten enthalte (z.B. wenn Klee schon von Euthanasietransporten vor dem eigentlichen Beginn der Euthanasieaktionen spricht). Allerdings betont er, dass die Veröffentlichung des Buches 1983 eine "mutige Tat" gewesen sei. (8)

Da insbesondere von Aziz sowie von Roth/ Aly fehlerhafte Angaben erfolgten, die dann von der weiteren Literatur übernommen wurden, ohne sie näher nachzuprüfen, entstanden fragwürdige Forschungsergebnisse. In seinem neuen Buch muss Benzenhöfer daher streckenweise wie ein Detektiv arbeiten, um immer wieder genannte Ergebnisse zu verifizieren bzw. zu falsifizieren. Wirklich gesicherte Ergebnisse findet er nur in den Unterlagen der Nürnberger Ärzteprozesse sowie in den Ermittlungen der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft. Leider wird Fritz Bauer von Benzenhöfer nicht erwähnt, im Gegensatz zu vielen anderen Autoren. Eine nähere Würdigung Bauers - gerade auch wegen der sorgfältigen Ermittlungen der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft - wäre hier sicher angebracht gewesen.

Der Beginn der "Euthanasie" bzw. "Kindereuthanasie" wird immer auf einen Fall aus Leipzig zurückgeführt. Hier hätten Eltern bei Hitler um den Tod ihres schwerbehinderten Kindes angefragt. Karl Brandt; Leibarzt von Hitler, hatte 1947 vor dem Amerikanischen Militärgericht in Nürnberg ausgesagt, dass diese Anfrage 1939 gekommen sei. Karl Brandt hatte von dem "Fall Leipzig" gesprochen. Bei den Ermittlungen gegen Hefelmann durch die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft sprach dieser von einem Kind namens Knauer. Der französische Journalist Aziz recherchierte in den 70iger Jahren und fand ein Kind Knauer in Pomßen, einem Dorf bei Leipzig. Dies sollte das besagte Kind sein, das letztlich den offiziellen Anstoß zur Euthanasie gegeben hätte. Erst später sollte sich herausstellen, dass diese Angaben falsch waren.

Benzenhöfer recherchiert nun selber und stellt fest, dass viele spätere Angaben korrigiert werden müssen. Die Vorgeschichte der NS-"Kindereuthanasie" müsse daher neu geschrieben werden. Gesichert ist nur, dass es jedenfalls 1938/39 eine Anfrage gegeben hatte und dass es einen "Fall Leipzig" gab. (9)

Das Buch "Der Fall Leipzig (alias Fall 'Kind Knauer')" liest sich wie ein Kriminalroman, wo Stück für Stück neu zusammengetragen wird. Manchmal ist es schon fast pedantisch, was aber an den vielen ungesicherten und falschen Angaben aus bisherigen Veröffentlichungen liegen mag. Das es 2008 noch so viele Unklarheiten zur Vorgeschichte der "NS-Euthanasie" und "NS-Kindereuthanasie" gab, zeigt, wie wenig ein ganzes Kapitel der NS-Geschichte von Historikern bearbeitet wurde. Ohne die wichtigen Ermittlungen zur "NS-Euthanasie" von Fritz Bauer und der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft hätte es noch dürftiger ausgesehen.

Da es sich gerade bei der Planung und Durchführung der "NS-Euthanasie" um ein so sensibles Thema handelt, dass mit der Tötung von vielen Menschen zusammenhängt - allein in der T4-Aktion sind bis 1941 ca. 70 000 Menschen vergast worden - sollte hier auch weiter geforscht werden. Das Buch von Benzenhöfer ist dazu sicher ein wichtiger und grundlegender Beitrag.

Als Abschluss sei die bekannte Ermächtigung von Hitler angeführt, die er im Oktober 1939 unterschrieben und auf den 1.September, den Kriegsbeginn zurückdatiert hat. Diese Ermächtigung, die so harmlos klingt, gab schließlich den Weg frei für die Morde:
"Reichsleiter Bouhler und Dr.med.Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann." (10)

U.D. (Jan 2013)

 

 

Anmerkungen:
1.  Rainer Gross: Grafeneck.. Bielefeld. 2007. Zur Interpretation u.a.: Beate Rittler-Geay/ Klaus Ritter: Rainer Gross, Grafeneck. Interpretationshilfen Deutsch. Stark Verlag. 2011; sowie Walburga Freund-Spork: Textanalyse und Interpretation zu Rainer Gross - Grafeneck. In: Königs Erläuterungen/ Spezial. Holfeld.2011.
2.  Rittler-Geay/ Ritter: a.a.O. S.4.
3. Korrekt wäre: Dr. Horst Schumann, Leiter der Vergasungsanstalt Grafeneck ab 1940, flüchtete nach dem Krieg nach Ghana. Die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft unter Fritz Bauer hatte im Verfahren gegen Heyde auch gegen ihn 1962 Anklage erhoben; zu einer Anklageerhebung kam es aber erst nach Bauers Tod am 12.Dezember 1969. Neun Monate später begann der Strafprozess, der am 14.April 1971 bereits erledigt war. Es war zu keinem Urteil gekommen. Schumann starb im Mai 1983.
4. Udo Benzenhöfer: Der Fall Leipzig (alias Fall "Kind Knauer") und die Planung der NS-"Kindereuthanasie". Verlag Klemm/ Ölschläger. 2008. 2.Aufl. 2012.
5. Ernst Klee: "Euthanasie" im NS-Staat. Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens". Frankfurt am Main. 1983.;  Karl Heinz Roth/ Götz Aly: Das "Gesetz über die Sterbehilfe bei unheilbar Kranken". Protokolle der Diskussion über die Legalisierung der nationalsozialistischen Anstaltsmorde in den Jahren 1938- 1941. In: Karl Heinz Roth (Hrsg): Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum "Gesetz über die Sterbehilfe". Berlin.1984; Philippe Aziz: Les médicine de la mort. Bd.4. Genf 1975.
(6) siehe dazu Benzenhöfer a.a.O. S.20f. Er bezieht sich dabei auf: Michael Burleigh: Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900-1945 (englische Erstausgabe 1994), in deutsch 2002; und : Henry Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. (engl. Originalausgabe 1995, deutsche Ausgabe 1997).
7. "Euthanasie vor Gericht". Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt/M gegen Dr.Werner Heyde u.a. vom 23.Mai 1962. Berlin. 2005.
8.  Benzenhöfer: a.a.O. S.13
9.  ebd. S.113ff
10. ebd. S.112

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