Forum Bioethik

Text von Arundhati Roy: 

Ein Kontinent brennt. Warum der Terrorismus nur ein Symptom ist

                    0 9.10.2001
                            Dokumentation XIV: Arundhati Roy: Terror ist nur
                            ein Symptom

                            Ein Kontinent brennt - Warum der Terrorismus nur ein Symptom ist - Die Interpretation des Textes von Arundhati Roy in der FAZ hätte Ulrich Wickert fast seinen Job als Tagesthemen-Moderator gekostet. Nicht Salman Rushdie, sondern die vierzigjährige Arundhati Roy ist die literarische Stimme Indiens, die von den Taten und Qualen der Globalisierung in ihrem Land berichtet. Roy ist längst die berühmteste und erfolgreichste Schriftstellerin des Landes. In vielen westlichen Ländern gilt sie als wichtigste Schriftstellerin des Subkontinents. Als politische Aktivistin ist Roy wiederholt in Konflikt mit den indischen Behörden geraten, zuletzt wegen ihrer Proteste gegen die indische Atomwaffenpolitik.
In ihren politischen Schriften artikuliert sich das radikale Bewußtsein jener intellektuellen Schicht, die nicht nur in Indien, sondern auch in Pakistan die
sozialen Konflikte primär als Folgen der Globalisierung, also als Ergebnisse
"westlicher" Politik interpretiert.
Ungeachtet der besonnenen amerikanischen Politik sind im Atomgürtel
Pakistan/Indien viele Menschen voller Wut auf die Vereinigten Staaten und die
Kultur der Globalisierung. Wer angesichts des Terroranschlags von New York glaubte, es werde sich eine moralisch empörte Menschheit um die Amerikaner scharen, sieht sich getäuscht. Im Gegenteil: der Haß wächst. Und Indien hat
sich immer noch nicht erklärt, inwieweit es bereit ist, die Vereinigten Staaten
zu unterstützen. Wir haben Arundhati Roy gebeten, uns zu sagen, warum das
so ist.
Ihr Text, der angesichts der fortlaufenden Ereignisse die ursprünglich
vereinbarte Länge weit überschreitet, beweist, allen Besänftigungsformeln zum
Trotz, daß der gegenwärtige Konflikt in den bevölkerungsreichsten Staaten der Erde als Krieg der Kulturen verstanden wird. F.A.Z.
 ARUNDHATI ROY wurde 1960 im südindischen Bundesstaat Kerala in einer
Familie syrischer Christen geboren. Ihr Vater war ein Hindu aus Bengalen.
Heute lebt sie in Neu Delhi. 1996 erschien ihr Roman "Der Gott der kleinen
Dinge" (Blessing Verlag), der zu einem Welterfolg wurde. Die indischen
Behörden zensierten das Buch aus "moralischen" Gründen: Roy beschrieb die
verbotene Liebe zu einem Unberührbaren. Als politische Aktivistin hat sie sich
mehrfach massiv mit der indischen Regierung angelegt. Was sie soziologisch
zur repräsentativen Stimme macht, ist die Tatsache, daß sie die Globalisierung
wie einen wirklichen Schmerz, den man ihr zufügt, zu erleben scheint. "In Indien", so hat sie einmal erklärt, "erlebe ich das entsetzliche Schuldgefühl
privilegiert zu sein."

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                            Arundhati Roy: Terror ist nur ein Symptom

                            Ein Kontinent brennt - Warum der Terrorismus nur ein Symptom ist

                            Von Arundhati Roy

                            Nach den skrupellosen Selbstmordanschlägen auf das Pentagon und das
                            World Trade Center erklärte ein amerikanischer Nachrichtensprecher: "Selten
                            zeigen sich Gut und Böse so deutlich wie am letzten Dienstag. Leute, die wir
                            nicht kennen, haben Leute, die wir kennen, hingemetzelt. Und sie haben es
                            voller Verachtung und Schadenfreude getan." Dann brach der Mann in Tränen
                            aus.

                            Hier haben wir das Problem: Amerika führt einen Krieg gegen Leute, die es
                            nicht kennt (weil sie nicht oft im Fernsehen zu sehen sind). Noch bevor die
                            amerikanische Regierung den Feind richtig identifiziert, geschweige denn
                            angefangen hat, sein Denken zu verstehen, hat sie, mit großem Tamtam und
                            peinlicher Rhetorik, eine "internationale Allianz gegen den Terror"
                            zusammengeschustert, die Streitkräfte und die Medien mobilisiert und auf den
                            Kampf eingeschworen. Allerdings wird Amerika, sobald es in den Krieg
                            gezogen ist, kaum zurückkehren können, ohne eine Schlacht geschlagen zu
                            haben. Wenn es den Feind nicht findet, wird es, der aufgebrachten Bevölkerung
                            daheim zuliebe, einen Feind konstruieren müssen. Kriege entwickeln ihre
                            eigene Dynamik, Logik und Begründung, und wir werden auch diesmal aus dem
                            Blick verlieren, warum er überhaupt geführt wird.

                            Wir erleben hier, wie das mächtigste Land der Welt in seiner Wut reflexartig
                            nach einem alten Instinkt greift, um einen neuartigen Krieg zu führen. Nun, da
                            Amerika sich selbst verteidigen muß, sehen die schnittigen Kriegsschiffe, die
                            Cruise Missiles und F-16- Kampfjets auf einmal ziemlich alt und schwerfällig
                            aus. Amerikas nukleares Arsenal taugt nicht zur Abschreckung.
                            Teppichklingen, Taschenmesser und kalte Wut sind die Waffen, mit denen die
                            Kriege des neuen Jahrhunderts geführt werden. Wut ist der Schlüssel. Ihn
                            bekommt man unbemerkt durch den Zoll, durch jede Gepäckkontrolle.

                            Gegen wen kämpft Amerika? In seiner Rede vor dem Kongreß bezeichnete
                            Präsident Bush die Feinde Amerikas als "Feinde der Freiheit". "Die Bürger
                            Amerikas fragen, warum sie uns hassen", sagte er. "Sie hassen unsere
                            Freiheiten - unsere Religionsfreiheit, unsere Redefreiheit, unsere Freiheit zu
                            wählen, uns zu versammeln und nicht immer einer Meinung zu sein." Zweierlei
                            wird uns abverlangt. Zum einen sollen wir glauben, daß der Feind der ist, der
                            von dieser Regierung als Feind deklariert wird, obwohl sie keine konkreten
                            Beweise vorlegen kann. Und zum anderen sollen wir glauben, daß die Motive
                            des Feindes genau so aussehen, wie sie von der Regierung dargestellt werden,
                            obwohl es auch dafür keine Beweise gibt.

                            Aus strategischen, militärischen und ökonomischen Gründen muß die
                            amerikanische Öffentlichkeit unbedingt davon überzeugt werden, daß Freiheit
                            und Demokratie und der American way of life bedroht sind. In der gegenwärtigen
                            Atmosphäre von Trauer, Empörung und Wut ist derlei leicht zu vermitteln. Wenn
                            das tatsächlich stimmt, stellt sich jedoch die Frage, warum die Anschläge den
                            Symbolen der wirtschaftlichen und militärischen Macht Amerikas galten.
                            Warum nicht der Freiheitsstatue? Könnte es sein, daß die finstere Wut, die zu
                            den Anschlägen führte, nichts mit Freiheit und Demokratie zu tun hat, sondern
                            damit, daß amerikanische Regierungen genau das Gegenteil unterstützt haben
                            - militärischen und wirtschaftlichen Terrorismus, Konterrevolution,
                            Militärdiktaturen, religiöse Bigotterie und unvorstellbaren Genozid (außerhalb
                            Amerikas)?

                            Für die trauernden Amerikaner ist es gewiß schwer, mit Tränen in den Augen
                            auf die Welt zu schauen und eine Haltung zu bemerken, die ihnen vielleicht als
                            Gleichgültigkeit erscheint. Doch es handelt sich nicht um Gleichgültigkeit. Es
                            ist eine Ahnung, ein Nicht-Überraschtsein. Es ist eine alte Erkenntnis, daß jede
                            Saat irgendwann auch aufgeht. Die Amerikaner sollten wissen, daß der Haß
                            nicht ihnen gilt, sondern der Politik ihrer Regierung. Ihnen kann unmöglich
                            entgangen sein, daß ihre außergewöhnlichen Musiker, ihre Schriftsteller,
                            Schauspieler, ihre phänomenalen Sportler und ihre Filme überall auf der Welt
                            beliebt sind. Wir alle waren bewegt von dem Mut und der Würde der
                            Feuerwehrleute, der Rettungskräfte und der gewöhnlichen Büroangestellten in
                            den Tagen und Wochen nach den Anschlägen.

                            Amerikas Trauer ist immens und immens öffentlich. Es wäre grotesk, von den
                            Amerikanern zu erwarten, daß sie ihren Schmerz relativieren oder mäßigen.
                            Aber es wäre schade, wenn sie, statt zu versuchen, die Ereignisse des 11.
                            September zu begreifen, das Mitgefühl der gesamten Welt beanspruchten und
                            nur die eigenen Toten rächen wollten. Denn dann wäre es an uns,
                            unangenehme Fragen zu stellen und harte Worte zu sagen. Und weil wir zu
                            einem unpassenden Zeitpunkt von unseren Schmerzen sprechen, wird man uns
                            tadeln, ignorieren und am Ende vielleicht zum Schweigen bringen. Doch die
                            Zeichen stehen auf Krieg. Was gesagt werden muß, sollte rasch gesagt
                            werden.

                            Bevor Amerika das Steuer der "internationalen Allianz gegen den Terror"
                            übernimmt, bevor es andere Länder auffordert (und zwingt), sich an seiner
                            nachgerade göttlichen Mission - der ursprüngliche Name der Operation lautete
                            "Grenzenlose Gerechtigkeit" - aktiv zu beteiligen, sollten vielleicht ein paar
                            Dinge geklärt werden.

                            Führt Amerika Krieg gegen den Terror in Amerika oder gegen den Terror ganz
                            allgemein? Was genau wird gerächt? Der tragische Verlust von fast
                            siebentausend Menschenleben, die Vernichtung von vierhundertfünfzigtausend
                            Quadratmetern Bürofläche in Manhattan, die Zerstörung eines Flügels des
                            Pentagon, der Verlust von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen, der Bankrott
                            einiger Fluggesellschaften und der Absturz der New Yorker Börse? Oder geht
                            es um mehr?

                            Als Madeleine Albright, die ehemalige Außenministerin der Vereinigten
                            Staaten, im Jahr 1996 gefragt wurde, was sie dazu sage, daß 500 000
                            irakische Kinder infolge des amerikanischen Wirtschaftsembargos gestorben
                            seien, sprach sie von einer sehr schweren Entscheidung, doch der Preis sei,
                            alles in allem, nicht zu hoch gewesen. Die Sanktionen gegen den Irak sind
                            übrigens noch immer in Kraft, und noch immer sterben Kinder. Genau darum
                            geht es: um die willkürliche Unterscheidung zwischen Zivilisation und Barbarei,
                            zwischen "Ermordung unschuldiger Menschen" oder "Krieg der Kulturen" und
                            "Kollateralschäden". Die Sophisterei und eigenwillige Algebra grenzenloser
                            Gerechtigkeit: Wie viele tote Iraker sind notwendig, damit es besser zugeht auf
                            der Welt? Wie viele tote Afghanen für jeden toten Amerikaner? Wie viele tote
                            Frauen und Kinder für einen toten Mann? Wie viele tote Mudschahedin für einen
                            toten Investmentbanker?

                            Eine Koalition der Supermächte der Welt schließt nun einen Ring um
                            Afghanistan, eines der ärmsten und am stärksten verwüsteten Länder der Welt,
                            dessen Taliban-Regierung Usama Bin Ladin Unterschlupf gewährt. Das einzige,
                            was in Afghanistan überhaupt noch zerstört werden könnte, sind die Menschen.
                            (Darunter eine halbe Million verkrüppelte Waisenkinder. Es wird berichtet, daß
                            es zu wildem Gedrängel der Humpelnden kommt, wenn über entlegenen,
                            unzugänglichen Dörfern Prothesen abgeworfen werden.) Die afghanische
                            Wirtschaft ist ruiniert. Aus Bauernhöfen sind Massengräber geworden. Das
                            Land ist übersät mit Landminen - nach jüngsten Schätzungen zehn Millionen.
                            Eine Million Menschen sind aus Furcht vor einem amerikanischen Angriff zur
                            pakistanischen Grenze geflohen. Es gibt keine Nahrungsmittel mehr,
                            Hilfsorganisationen mußten das Land verlassen, und nach Berichten der BBC
                            steht eine der schlimmsten humanitären Katastrophen der jüngsten Zeit bevor.

                            An der heutigen Lage in Afghanistan war Amerika übrigens in nicht geringem
                            Maße beteiligt (falls das ein Trost ist). Im Jahr 1979, nach der sowjetischen
                            Invasion, begannen die CIA und der pakistanische Militärgeheimdienst ISI die
                            größte verdeckte Operation in der Geschichte der CIA. Beabsichtigt war, den
                            afghanischen Widerstand zu steuern und das islamische Element so weit zu
                            stärken, daß sich die muslimischen Sowjetrepubliken gegen das
                            kommunistische Regime erheben und es am Ende destabilisieren würden.
                            Diese Operation sollte das Vietnam der Sowjetunion sein. Im Laufe der Jahre
                            rekrutierte und unterstützte die CIA fast 100 000 radikale Mudschahedin aus
                            vierzig islamischen Ländern für den amerikanischen Stellvertreterkrieg. Diese
                            Leute wußten nicht, daß sie ihren Dschihad für Uncle Sam führten. (Welche
                            Ironie, daß die Amerikaner ebensowenig wußten, daß sie ihre späteren Feinde
                            finanzierten!)

                            Nach zehn Jahren erbitterten Kampfes zogen sich die Russen 1989 zurück und
                            hinterließen ein verwüstetes Land. Der Bürgerkrieg in Afghanistan tobte weiter.
                            Der Dschihad griff über nach Tschetschenien, in das Kosovo und schließlich
                            nach Kaschmir. Die CIA lieferte weiterhin Geld und Waffen, doch die laufenden
                            Kosten waren so enorm, daß immer mehr Geld benötigt wurde. Auf Befehl der
                            Mudschahedin mußten die Bauern Opium (als "Revolutionssteuer") anbauen.
                            Der ISI richtete in Afghanistan Hunderte von Heroinlabors ein, und zwei Jahre
                            nach dem Eintreffen der CIA war das pakistanisch-afghanistanische
                            Grenzgebiet der weltweit größte Heroinproduzent geworden. Die jährlichen
                            Gewinne, zwischen einhundert und zweihundert Milliarden Dollar, flossen
                            zurück in die Ausbildung und Bewaffnung von Militanten.

                            Im Jahr 1995 kämpften sich die Taliban, seinerzeit eine marginale Sekte von
                            gefährlichen Fundamentalisten, in Afghanistan an die Macht. Finanziert wurden
                            sie vom ISI, dem alten Freund der CIA, und sie genossen die Unterstützung
                            vieler Parteien in Pakistan. Die Taliban errichteten ein Terrorregime, dessen
                            erstes Opfer die eigene Bevölkerung war, vor allem Frauen. Angesichts der
                            Menschenrechtsverletzungen der Taliban spricht wenig dafür, daß sich das
                            Regime durch Kriegsdrohungen einschüchtern ließe oder einlenken wird, um
                            die Gefahr für die Zivilbevölkerung abzuwenden. Kann es nach allem, was
                            passiert ist, etwas Ironischeres geben, als daß Rußland und Amerika mit
                            vereinten Kräften darangehen wollen, Afghanistan abermals zu zerstören? Auch
                            Pakistan, Amerikas treuer Verbündeter, hat enorm gelitten. Die amerikanischen
                            Regierungen haben noch stets Militärdiktatoren unterstützt, die kein Interesse
                            an demokratischen Verhältnissen im Land hatten.

                            Vor dem Auftauchen der CIA gab es einen kleinen ländlichen Markt für Opium.
                            Zwischen 1979 und 1985 stieg die Zahl der Heroinsüchtigen von Null auf
                            anderthalb Millionen an. In Zeltlagern entlang der Grenze leben drei Millionen
                            afghanische Flüchtlinge. Die pakistanische Wirtschaft liegt darnieder.
                            Gewaltsame soziale Konflikte, globalisierungsbedingte
                            Transformationsprozesse und Drogenbosse zerreißen das Land. Die Madrasas
                            und Ausbildungslager für Terroristen, ursprünglich eingerichtet zum Kampf
                            gegen die Sowjets, brachten Fundamentalisten hervor, die in Pakistan großen
                            Rückhalt haben. Die Taliban, von der pakistanischen Regierung seit Jahren
                            unterstützt und finanziert, haben in den pakistanischen Parteien materielle und
                            strategische Verbündete. Auf einmal bittet (bittet?) Amerika die pakistanische
                            Regierung, den Schoßhund, den es in seinem Hinterhof jahrelang großgezogen
                            hat, abzustechen.

                            Präsident Musharraf, der den Amerikanern Unterstützung versprochen hat,
                            könnte sich bald mit einer bürgerkriegsähnlichen Situation konfrontiert sehen.

                            Indien kann von Glück reden, daß es, dank seiner geographischen Lage und
                            der Weitsicht früherer Politiker, bislang nicht in dieses Great Game
                            hineingezogen wurde. Unsere Demokratie hätte das höchstwahrscheinlich nicht
                            überlebt. Heute müssen wir entsetzt mit ansehen, wie die indische Regierung
                            die Amerikaner inständig darum bittet, ihre Operationsbasis in Indien statt in
                            Pakistan zu errichten. Jedes Land der Dritten Welt mit einer schwachen
                            Wirtschaft und einem unruhigen sozialen Fundament müßte wissen, daß eine
                            Einladung an eine Supermacht wie die Vereinigten Staaten (ganz gleich, ob die
                            Amerikaner für länger bleiben oder nur kurz vorbeischauen wollen) fast so ist,
                            als würde ein Autofahrer darum bitten, ihm einen Stein in die
                            Windschutzscheibe zu werfen.

                            In dem Medienspektakel nach dem 11. September hielt es keiner der großen
                            Fernsehsender für nötig, ein Wort über die Geschichte des amerikanischen
                            Engagements in Afghanistan zu verlieren. Für all jene, die von diesen Dingen
                            nichts wissen, hätte die Berichterstattung über die Anschläge informativ und
                            aufrüttelnd sein können, wenn Zyniker sie vielleicht auch übertrieben gefunden
                            hätten.

                            Für uns aber, die wir die jüngste Geschichte Afghanistans kennen, sind die
                            amerikanische Berichterstattung und das Gerede von der "internationalen
                            Allianz gegen den Terror" einfach eine Beleidigung. Amerikas "freie Presse" ist
                            dafür genauso verantwortlich wie der "freie Markt".

                            Die bevorstehende Operation wird angeblich zur Aufrechterhaltung
                            amerikanischer Werte durchgeführt. Doch sie wird noch mehr Zorn und Angst in
                            der ganzen Welt erzeugen, und am Ende dürften diese Werte völlig diskreditiert
                            sein. Für die gewöhnlichen Amerikaner bedeutet das, daß sie in einem Klima
                            schrecklicher Ungewißheit leben werden. Schon warnt CNN vor der Möglichkeit
                            eines biologischen Krieges (Pocken, Beulenpest, Milzbrand), der mit harmlosen
                            Sprühflugzeugen geführt werden kann.

                            Die Regierung Amerikas, und wohl Regierungen überall auf der Welt, werden
                            die Kriegsatmosphäre als Vorwand benutzen, um Meinungsfreiheit und andere
                            Bürgerrechte einzuschränken, Arbeiter zu entlassen, ethnische und religiöse
                            Minderheiten zu schikanieren, Haushaltseinsparungen vorzunehmen und viel
                            Geld in die Militärindustrie zu stecken. Und wozu? Präsident Bush kann die
                            Welt ebensowenig "von Übeltätern befreien", wie er sie mit Heiligen bevölkern
                            kann. Es ist absurd, wenn die US-Regierung auch nur mit dem Gedanken
                            spielt, der Terrorismus ließe sich mit noch mehr Gewalt und Unterdrückung
                            ausmerzen. Der Terrorismus ist ein Symptom, nicht die Krankheit. Der
                            Terrorismus ist in keinem Land zu Hause. Er ist ein supranationales, weltweit
                            tätiges Unternehmen wie Coke oder Pepsi oder Nike. Beim geringsten
                            Anzeichen von Schwierigkeiten brechen Terroristen die Zelte ab und ziehen,
                            genau wie die Multis, auf der Suche nach besseren Möglichkeiten mit ihren
                            "Fabriken" von Land zu Land.

                            Der Terrorismus als Phänomen wird wohl nie verschwinden. Will man ihm aber
                            Einhalt gebieten, muß Amerika zunächst einmal erkennen, daß es nicht allein
                            auf der Welt ist, sondern zusammen mit anderen Nationen, mit anderen
                            Menschen, die, auch wenn sie nicht im Fernsehen gezeigt werden, lieben und
                            trauern und Geschichten und Lieder und Kummer haben und weiß Gott auch
                            Rechte. Doch als der Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gefragt wurde,
                            was er als einen Sieg im neuen amerikanischen Krieg bezeichnen würde,
                            meinte er, ein Sieg wäre, wenn er die Welt davon überzeugen könne, daß es
                            den Amerikanern möglich sein müsse, an ihrem way of life festzuhalten.

                            Die Anschläge vom 11. September waren die monströse Visitenkarte einer aus
                            den Fugen geratenen Welt. Die Botschaft könnte, wer weiß, von Usama Bin
                            Ladin stammen und von seinen Kurieren übermittelt worden sein, aber sie
                            könnte durchaus unterzeichnet sein von den Geistern der Opfer von Amerikas
                            alten Kriegen.

                            Die Millionen Toten in Korea, Vietnam und Kambodscha, die 17 500 Toten, als
                            Israel (mit Unterstützung Amerikas) 1982 im Libanon einmarschierte, die 200
                            000 Iraker, die bei der Operation Wüstensturm starben, die Tausenden
                            Palästinenser, die im Kampf gegen die israelische Besetzung des
                            Westjordanlands den Tod fanden. Und die Millionen, die in Jugoslawien,
                            Somalia, Haiti, Chile, Nikaragua, El Salvador, Panama, in der Dominikanischen
                            Republik starben, ermordet von all den Terroristen, Diktatoren und
                            Massenmördern, die amerikanische Regierungen unterstützt, ausgebildet,
                            finanziert und mit Waffen versorgt haben. Und diese Aufzählung ist keineswegs
                            vollständig. Für ein Land, das an so vielen Kriegen und Konflikten beteiligt war,
                            hat Amerika außerordentlich viel Glück gehabt. Die Anschläge vom 11.
                            September waren erst der zweite Angriff auf amerikanischem Territorium
                            innerhalb eines Jahrhunderts.
                            Der erste war Pearl Harbor. Die Revanche dafür endete, nach einem langen
                            Umweg, mit Hiroshima und Nagasaki. Heute wartet die Welt mit angehaltenem
                            Atem auf den Schrecken, der uns bevorsteht.

                            Unlängst sagte jemand, daß, wenn es Usama Bin Ladin nicht gäbe, die
                            Amerikaner ihn erfinden müßten. In gewissem Sinne haben sie ihn tatsächlich
                            erfunden. Er gehörte zu den Kämpfern, die 1979 nach Afghanistan gingen, als
                            die CIA mit den Operationen begann. Usama Bin Ladin zeichnet sich dadurch
                            aus, daß er von der CIA hervorgebracht wurde und vom FBI gesucht wird.
                            Binnen zweier Wochen avancierte er vom Verdächtigen zum Hauptverdächtigen,
                            und inzwischen will man ihn, trotz des Mangels an Beweisen, "tot oder
                            lebendig" haben.

                            Nach allem, was über seinen Aufenthaltsort bekannt ist, könnte es durchaus
                            möglich sein, daß er die Anschläge nicht persönlich geplant hat und an der
                            Ausführung auch nicht beteiligt war - daß er vielmehr der führende Kopf ist, der
                            Vorstandsvorsitzende des Unternehmens. Die Reaktion der Taliban auf die
                            amerikanische Forderung, Bin Ladin auszuliefern, war ungewöhnlich realistisch:
                            Legt Beweise vor, dann händigen wir ihn euch aus. Präsident Bush erklärte
                            seine Forderung für nicht verhandelbar. (Da gerade über die Auslieferung von
                            Vorstandsvorsitzenden gesprochen wird - dürfte Indien ganz nebenbei um die
                            Auslieferung von Warren Anderson bitten? Der Mann war als Chef von Union
                            Carbide verantwortlich für die Katastrophe von Bhopal, bei der sechzehntausend
                            Menschen umkamen. Wir haben die nötigen Beweise zusammengetragen, alle
                            Dokumente liegen vor. Also gebt ihn uns bitte!)

                            Wer ist Usama Bin Ladin aber wirklich? Ich möchte es anders formulieren: Was
                            ist Usama Bin Ladin? Er ist das amerikanische Familiengeheimnis. Er ist der
                            dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten. Der brutale Zwilling
                            alles angeblich Schönen und Zivilisierten. Er ist aus der Rippe einer Welt
                            gemacht, die durch die amerikanische Außenpolitik verwüstet wurde, durch ihre
                            Kanonenbootdiplomatie, ihr Atomwaffenarsenal, ihre unbekümmerte Politik der
                            unumschränkten Vorherrschaft, ihre kühle Mißachtung aller
                            nichtamerikanischen Menschenleben, ihre barbarischen Militärinterventionen,
                            ihre Unterstützung für despotische und diktatorische Regimes, ihre
                            wirtschaftlichen Bestrebungen, die sich gnadenlos wie ein
                            Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft armer Länder gefressen haben.
                            Ihre marodierenden Multis, die sich die Luft aneignen, die wir einatmen, die
                            Erde, auf der wir stehen, das Wasser, das wir trinken, unsere Gedanken.

                            Nun, da das Familiengeheimnis gelüftet ist, werden die Zwillinge allmählich eins
                            und sogar austauschbar. Ihre Gewehre und Bomben, ihr Geld und ihre Drogen
                            haben sich eine Zeitlang im Kreis bewegt. (Die Stinger-Raketen, die die
                            amerikanischen Hubschrauber begrüßen werden, wurden von der CIA geliefert.
                            Das Heroin, das von amerikanischen Rauschgiftsüchtigen verwendet wird,
                            stammt aus Afghanistan. Die Regierung Bush ließ der afghanischen Regierung
                            unlängst 43 Millionen Dollar zur Drogenbekämpfung zukommen.) Inzwischen
                            werden sich die beiden auch in der Sprache immer ähnlicher. Jeder bezeichnet
                            den anderen als "Kopf der Schlange". Beide berufen sich auf Gott und greifen
                            gern auf die Erlösungsrhetorik von Gut und Böse zurück.

                            Beide sind in eindeutige politische Verbrechen verstrickt. Beide sind gefährlich
                            bewaffnet - der eine mit dem nuklearen Arsenal des obszön Mächtigen, der
                            andere mit der glühenden, zerstörerischen Macht des absolut Hoffnungslosen.
                            Feuerball und Eispickel. Keule und Axt. Man sollte nur nicht vergessen, daß
                            der eine so wenig akzeptabel ist wie der andere.

                            Präsident Bushs Ultimatum an die Völker der Welt - "Entweder ihr seid für uns,
                            oder ihr seid für die Terroristen" - offenbart eine unglaubliche Arroganz. Kein
                            Volk will diese Wahl treffen, kein Volk braucht diese Wahl zu treffen und keines
                            sollte gezwungen werden, sie zu treffen.

                            Aus dem Englischen von Matthias Fienbork.

                            Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.09.2001, Nr. 226 / Seite 49 f.
 

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